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Die Helden der Stadt

Zwei Grossbrände schreckten Anfang 2019 ganz Chur auf und verlangten von den Männern und Frauen der Feuerwehr alles ab. Kommandant Hansjörg Erni und sein Team von rund 90 Männern und Frauen bewältigten beide Brände. Für ihren unermüdlichen Einsatz werden sie nominiert als «Bündner des Jahres 2019».

Kristina
Schmid
03.12.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Kommandant Hansjörg Erni und sein Team haben zwei Grossbrände in Chur bewältigt.
Kommandant Hansjörg Erni und sein Team haben zwei Grossbrände in Chur bewältigt.
OLIVIA AEBLI-ITEM

Den Schlüssel verlegen? Minutenlang suchen und kramen, um ihn schliesslich im Hosensack zu finden? Unvorstellbar für Hansjörg Erni. Noch nie musste er in den vergangen zwölf Jahren seinen Schlüssel suchen. Es wäre wohl auch das Dümmste, das einem Feuerwehrmann passieren könnte. Schliesslich drängt die Zeit, wenn es irgendwo brennt. Deshalb liegt sein Schlüssel bei ihm zu Hause immer – aber immer – am gleichen Platz. Und neben dem Bett liegen ebenfalls stets bereit: ein T-Shirt, eine Trainerhose, ein Paar Socken. So muss er nur noch reinschlüpfen, wenn sein Pager losgeht.

So geschehen etwa am Sonntag, 13. Januar 2019, 03:06. Bis zu dieser Sekunde schläft Erni tief und fest in seinem Bett. Dann geht sein Pager los, das Handy klingelt. «Chur Foralweg 21 Brand 2. OG». Es ist alles, was er zu diesem Zeitpunkt weiss. Schnell zieht er seine Klamotten an, rennt in die Garage, fährt los. Vier Minuten später steht er bereits in Uniform im Feuerwehr-Depot in Chur. Vier Minuten. So lange braucht Erni höchstens, wenn auf den Churer Strassen nicht viel los ist. «Wenns brennt, muss alles schnell gehen. Im Ernstfall zählt schliesslich jede Minute.» 

Alarm – und los!

So ist das bei einer Milizfeuerwehr. Da sitzt niemand im Feuerwehrdepot in Chur, wenn es brennt – wie bei einer Berufsfeuerwehr – und nimmt Anrufe entgegen. Die Männer und Frauen von der Feuerwehr Chur haben einen weiteren Beruf. Einen, dem sie in viel grösserem Pensum nachgehen. Erni arbeitet etwa zu 80 Prozent bei der Graubündner Kantonalbank im Controlling-Bereich. Und auch alle anderen Mitglieder der Feuerwehr haben bis auf den Vollzeit-angestellten Materialwart ihren anderen Job oder familiäre Verpflichtungen, denen sie nachgehen müssen. 

Wenn es aber brennt, dann rennen sie. Ganz egal, wann und wo sie gerade gerufen werden. Das kann bei der Arbeit sein. Bei einem Meeting. Bei einem Mittagessen mit den Freunden. Beim Dinner mit der Ehefrau. Just in dem Moment, da es klingelt, müssen die Männer und Frauen alles stehen und liegen lassen – und rennen. «Es braucht dafür einen kulanten Arbeitgeber und einen verständnisvollen Partner oder Partnerin», sagt Erni. Für ihre Mühe und Bereitschaft werden die Mitglieder der Feuerwehr Chur entsprechend entlohnt – mit einem Stundenlohn von 50 Franken. Diesen erhalten sie im Ernstfall, aber auch bei Übungen.

64 Feuerwehrleute am Foralweg

Dichte, schwarze Rauchwolken steigen aus den Fenstern und dem Balkon am Foralweg 21 in Chur. Es ist eine kalte Januarnacht, dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Erni blickt zum Balkon. Ihm wird klar, dass er diesen Brand nicht mit nur einer der drei aufgebotenen Einsatzbereitschaften unter Kontrolle kriegen wird. Er ruft die Polizeizentrale an, sagt, sie sollen die gesamte Feuerwehr aufbieten. Also alle 90 Mann. Kurze Zeit später stehen 64 Feuerwehrleute im Einsatz. Erni steht draussen, wo er den besten Überblick hat. Ein Blick in die Höhe zeigt, dass im obersten Stockwerk ein Mann und eine Frau noch auf dem Balkon stehen. Das Gebäude können sie nicht mehr verlassen, zu dicht ist inzwischen der Rauch im Treppenhaus. Erni schickt zwei Männer hoch, ausgerüstet mit Gasmaske, Sauerstoffflasche und Helm - und wartet. Einige Minuten später treten die beiden Feuerwehrmänner in Begleitung der beiden Anwohner, ihres Hundes und einer Katze sicher aus dem Haus.

Wie Erni im Gespräch erklärt, ist die Feuerwehr Chur in drei Gruppen aufgeteilt. Wenn es brennt, wird immer erst nur eine Gruppe aufgeboten. Das heisst: Rund 30 Männer werden per Pager über den Brand informiert. «Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass im Schnitt immer mindestens die Hälfte springen kann», sagt Erni. Deshalb gebe es bei der Feuerwehr Chur auch keinen Pikett-Dienst. Und niemand müsse an gewissen Tagen berufsbedingt in der Stadt bleiben. Jeder könne in die Ferien gehen, wann er will. Erst, wenn man merkt, dass es für einen Brand mehr Männer und Frauen braucht, wird auch die zweite Gruppe alarmiert oder gar die gesamte Feuerwehr. So geschehen etwa im Fall am Foralweg. «Da habe ich gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt und deshalb die gesamte Feuerwehr aufgeboten.»

1000 Grad Hitze

Foralweg, 13. Januar. Noch immer ist der Rauch im Treppenhaus so dicht, dass die Männer kaum ihre eigene Hand vor dem Gesicht erkennen können. Zwei der Feuerwehrleute kämpfen an der Front. Sie versuchen, das Feuer von der Wohnungstür aus Schritt für Schritt in den Griff zu bekommen. Die Türe nutzen die beiden als Schutzschild. Und Stunde für Stunde wird das Feuer kleiner.

«Der Druck des Feuers war so gewaltig, dass er die Fenster und die Wohnungstüre aus den Rahmen gesprengt hatte», erklärt Erni. Deshalb konnten die Männer die Tür als Schutzschild überhaupt erst nutzen. Und das war auch nötig, wie sich später zeigen sollte. «Die Hitze war enorm», sagt Erni. «So gross, dass Antonios Jackenärmel und auch der Helm beschädigt wurden. Noch immer sieht man Brand- und Schmelzspuren.» Und das sei bei Temperaturen um die 1000 Grad überhaupt erst möglich. Die Jacke hängt heute im Feuerwehrdepot. Als eine Art Mahnmal. Als eine Art Erinnerung. «Es war ein schrecklicher Abend», sagt Erni. «Vor allem, als die Vermutungen lauter wurden, dass sich in der Wohnung wohl noch Leute aufgehalten hätten.» Erni wird kurz still. «Wir wussten, wenn das wahr ist, hätten diese Menschen nicht den Hauch einer Chance gehabt.»

Vermutungen bewahrheiten sich

In den frühen Morgenstunden des 13. Januar haben die Männer und Frauen der Feuerwehr Chur die Flammen inzwischen so weit unter Kontrolle, sodass man die Wohnung zumindest würde betreten können. Und jemand muss da rein, um die Vermutungen der Anwohner und Polizei zu bestätigen. «Ich wusste nicht, was meine Männer da drinnen erwarten würde. Deshalb wollte ich auch keinen jungen Mann da reinschicken. Das wollte ich ihm nicht antun.» Also schickt Erni einen der erfahrenen Feuerwehrmänner, ausgestattet mit einer Wärmekamera, in die Wohnung. Kurze Zeit später teilt dieser per Funk mit, dass die Vermutungen Tatsache sind. 

Drei Leichen. Zwei Kinder. Ein Erwachsener.

Kurz vor Mittag des 13. Januar ist der Brand gelöscht, die Aufgabe der Feuerwehr erledigt. Nun ist die Polizei an der Reihe. Erni öffnet die Türe zu seiner eigenen Wohnung und sieht seine Kinder, wie sie umherspringen. Ein Junge, acht Jahre alt. Ein Mädchen, fünf Jahre alt. Und ein Baby, noch kein Jahr alt. Da trifft es ihn. Der Schock setzt ein. Die tiefe Trauer. «Es tat mir so unfassbar leid», sagt Erni. «Einfach alles.» Der Gedanke an die Mama, die nun ohne ihre beiden Kinder leben musste. Der Gedanke an die Kinder, die ihrer Zukunft beraubt wurden. Und gleichzeitig verspürt er eine tiefgreifende Dankbarkeit für seine Familie. 

Leben retten, Brände löschen, sicher bleiben

Keine drei Tage später schlägt der Pager von Erni erneut Alarm. Wieder schlüpft er in seine Sachen, rennt los. «Noch bevor ich ging, sagte ich zu meiner Frau. 'Etwas im Postauto-Depot. Das ist sicher nichts. Bin in anderthalb Stunden zurück.'» Wie sehr er sich irren sollte, wird Erni vor Ort bewusst. Das Postauto-Depot brennt lichterloh. Die Flammen schlagen in alle Richtungen, und ein dicke Rauchwolke hat sich bereits über Chur gelegt. Fast schon fassungslos blickt Erni seinen Kollegen an, der im Auto neben ihm sitzt, und sagt: «Bitte nicht schon wieder.»

Es ist der zweite Grossbrand innert drei Tagen. Und erneut muss Erni die gesamte Feuerwehr der Stadt Chur aufbieten – und die Feuerwehr der Ems-Chemie, Domat/Ems-Felsberg und Churwalden um Unterstützung bitten. Dieses Mal stehen100 Männer und Frauen im Einsatz, die zuerst die Bewohner aus den umliegenden Gebäuden evakuieren und anschliessend den Brand löschen. Beim Brand entsteht ein Sachschaden von sieben Millionen Franken, wie später bekannt wird. «Medial war die Resonanz beim diesem Brand viel grösser», sagt Erni. «Doch der Brand am Foralweg war viel schlimmer. Dort kostete der Brand schliesslich drei Menschenleben.»

Wie Erni im Gespräch erklärt, hatte er aber bei beiden Bränden zu keiner Zeit Angst um seine Männer. Erst gehe es darum, Leben zu retten. Dann darum, den Brand zu löschen. Aber noch vor allem stehe das Gebot der Sicherheit. «Unsere Männer dürfen ihr Leben nicht riskieren. Sie würden es vielleicht. Ganz bestimmt sogar. Aber meine Aufgabe und die der anderen Führungsoffiziere ist es, sie davon abzuhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben. Wir müssen auch an ihre Familien denken. Aber es ist schon so: Wenn wir Leben retten, erhalten wir den Schub und die Kraft, weiterzumachen. In diesen Momenten sehen wir, wozu wir das überhaupt machen. Und die Dankbarkeit der Menschen bedeutet uns alles.»

Wichtige Worte des Kommandanten Hansjörg Erni an Euch.

«suedostschweiz.ch» stellt Euch diese Woche jeden Tag einen der fünf Nominierten vor, ehe es ab dem 9. Dezember ans Voten geht. Dann entscheidet Ihr mit Eurer Stimme, wer letztlich das Rennen als «Bündner/in des Jahres 2019» macht. Der Sieger oder die Siegerin wird am 16. Dezember bekannt gegeben.

Kristina Schmid berichtet über aktuelle Geschehnisse im Kanton und erzählt mit Herzblut die bewegenden Geschichten von Menschen in Graubünden. Sie hat Journalismus am MAZ studiert und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Rheintal, worüber sie in ihrem Blog «Breistift» schreibt. Mehr Infos

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