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Körperlich aktiv und kreativ sein – das ist jetzt wichtig für die Psyche

Die behördlich verordneten Hygienemassnahmen und der soziale Abstand helfen jetzt, sich nicht mit dem Coronavirus zu infizieren, also physisch gesund zu bleiben. Was ist mit der psychischen Gesundheit? Auch dafür gibt es Empfehlungen von Fachleuten. Heidi Eckrich und Andres Schneeberger von den Psychiatrischen Diensten Graubünden geben Auskunft.

Simone
Zwinggi
02.04.20 - 12:00 Uhr
Leben & Freizeit

Der Alltag von sehr vielen Menschen ist aufgrund der Coronakrise derzeit stark eingeschränkt. Arbeiten, schlafen, Freizeit – fast alles findet in den eigenen vier Wänden statt; soziale Kontakte können oft nur noch virtuell gepflegt werden, Berührungen wie Händeschütteln und Umarmungen fallen weg. Wie wirkt sich das auf die Psyche von grundsätzlich gesunden Menschen aus?

Andres Schneeberger, Ärztlicher Direktor Erwachsenenpsychiatrie PDGR, und Heidi Eckrich, Ärztliche Direktorin Kinder- und Jugendpsychiatrie PDGR, geben gemeinsam schriftlich Auskunft:

Je nach Lebensumständen führt die Isolation zu verschiedenen Reaktionen. Grundsätzlich zeigen Menschen in Isolation emotionale Veränderungen, depressive Zustände, Stress, Reizbarkeit und Schlafstörungen. Menschen, die zudem mit möglicherweise infizierten Personen in Kontakt waren, werden zusätzlich nervös, haben Angst und Schuldgefühle. Menschen, die alleine leben, spüren die Einsamkeit jetzt besonders stark. Denn die fehlende Nähe, nicht zuletzt hervorgerufen durch die fehlende Ausschüttung von Bindungshormonen, kann zu den oben erwähnten Zuständen führen. Besonders ältere Menschen sind davon sehr stark betroffen.

Wer aber in einer Partnerschaft oder einer Familie lebe, sei weniger von der Einsamkeit betroffen, dafür umso mehr von der Belastung der Enge und den fehlenden Ausweichmöglichkeiten in der Wohnung oder im Haus. Die Möglichkeiten, Sport zu treiben oder Freunde zu treffen, um so Dampf abzulassen, sind jetzt eingeschränkt. Man ist jetzt gezwungenermassen nur auf den Partner oder die Partnerin fixiert, wie die beiden Experten erklären. Damit sei das Auftreten von Konflikten im häuslichen Umfeld vorprogrammiert, besonders bei länger andauernden Isolationen.

Andres Schneeberger, Ärztlicher Direktor Erwachsenenpsychiatrie PDGR, und Heidi Eckrich, Ärztliche Direktorin Kinder- und Jugendpsychiatrie PDGR
Andres Schneeberger, Ärztlicher Direktor Erwachsenenpsychiatrie PDGR, und Heidi Eckrich, Ärztliche Direktorin Kinder- und Jugendpsychiatrie PDGR
PRESSEBILDER

Was empfehlen Sie der Bevölkerung, um die psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten?

Körperlich aktiv bleiben, reden, mit Freunden, Kollegen und Angehörigen in Kontakt bleiben, kreative Aktivitäten suchen, an sich selber glauben und Zukunftspläne schmieden, sich engagieren, sich entspannen, wenn nötig private oder öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen, neue Sachen erkunden oder lernen und nicht zuletzt die eigenen Empfindungen wahr- und ernstnehmen. Für Partner und Familien ist es zudem wichtig, sich trotz der Enge Freiräume zu schaffen, alleine mit dem besten Freund oder der besten Freundin über Videokonferenz zu sprechen oder ein Hobby auszuüben. Auch ist es wichtig, eine Tagesstruktur zu planen und sich als Paar oder Familie daran zu halten.  

Grundsätzlich würden dieselben Empfehlungen zur Förderung der psychischen Gesundheit gelten wie in anderen Situationen, jedoch mit leichten Anpassungen, erläutern Eckrich und Schneeberger. Dazu habe das Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz die zehn Schritte für psychische Gesundheit an die ausserordentliche Lage bei Covid-19 angepasst.

Kann die Corona-Situation auch gewisse positive Effekte auf die Psyche haben – zum Beispiel, weil man jetzt mehr Zeit mit seiner Familie verbringen kann oder mehr Zeit hat zum Reden?

In einer Pandemie positive Effekte zu finden ist schwierig. Wenn Menschen es jedoch schaffen, gemäss den Empfehlungen zur psychischen Gesundheit neue Aktivitäten allein oder auch in der Familie aufzubauen, können durchaus neue und kreative Wege eingeschlagen werden. Diese unterstützen die Personen vielleicht auch nachhaltig.

Wie wirkt sich diese Krisensituation auf jemanden aus, der psychisch krank ist? Was ist für solche Menschen wichtig?

Aus früheren Pandemien ist bekannt, dass Menschen mit einer vorbestehenden psychischen Störung besonders unter der Isolation und einer möglichen Quarantäne leiden. Die existierende Störung kann dadurch verstärkt werden, möglicherweise kommen zusätzliche Symptome wie Angst und Reizbarkeit dazu. Das kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Es ist deshalb sehr wichtig, dass die psychiatrische Versorgung psychisch kranker Menschen aufrechterhalten werden kann.

Aus diesem Grund hätten die PDGR das Angebot notfallmässiger Behandlungen vergrössert – sowohl via Telefon, Videokonferenz oder persönlich in der Klinik.

Wie können wir in dieser Ausnahmesituation die psychische Gesundheit unserer Kinder unterstützen?

Derzeit sind Eltern von Kindern aller Altersklassen ganz ausserordentlich gefordert: Sie müssen die Tagesstruktur neu organisieren, eigene Ängste und Belastungen managen und darüber hinaus in der Lage sein, das, was die Kinder aktuell bewegt, aufzunehmen. Ein enormer Stresstest für alle Familien!
Aber es gibt eine Fülle hilfreicher und umsetzbarer Ideen, um aus der Herausforderung eine Chance werden zu lassen! Aufklärung ist unerlässlich, reden Sie mit ihren Kindern altersgerecht, warum gerade alles so anders ist als sonst. Hilfreich für Kinder unter sieben Jahren ist zum Beispiel die herunterladbare deutsche Version des «Covibook» von Manuela Molina. Versichern Sie ihren Kindern, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie ernsthaft erkranken. Und erklären Sie Ihren Kindern, welche Unterstützung für Sie, die Eltern, im Krankheitsfall da wäre, damit die Kinder sich nicht deswegen Sorgen machen müssen. Zeigen Sie ihnen, wie man sich konkret schützen kann (Hände waschen. Abstand halten) und erinnern Sie sie auch daran.
Nicht minder wichtig ist das Aufrechterhalten von täglichen Routinen und Ritualen (Bettgeh- und Essenszeiten zum Beispiel), das vermittelt Sicherheit und Stabilität. Bereichern Sie den Tag mit positiven gemeinsamen Aktivitäten wie lesen, spielen, malen, basteln, kochen. Das hilft, Ängste zu reduzieren und erzeugt nebenbei wunderbare Gesprächssituationen. Das Internet ist voller kreativer Ideen zur gemeinsamen Beschäftigung, auch in Quarantäne-Situationen (z.B. hier oder hier). Ermutigen Sie Ihre Kinder, selber darüber nachzudenken, welche Dinge ihnen gut tun und helfen, Angst und Sorgen zu reduzieren. Und es ist völlig in Ordnung, wenn Ihr Kind derzeit vermehrt Nähe sucht oder sich trennungsängstlich zeigt. Und nicht zuletzt: Tragen Sie sich selbst Sorge! Suchen Sie sich jemanden, der Ihnen zuhört und Sie unterstützt.

Liege zusätzlich eine besondere Bedingung wie eine psychische Erkrankung oder einfach ein ungutes Familienklima vor, reichten möglicherweise die Kapazitäten innerhalb der Familie nicht mehr, führen Eckrich und Schneeberger weiter an. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie der PDGR biete dann rasche und unkomplizierte Hilfe, um eine drohende oder vorhandene Kindswohlgefährdung schnellst möglich zu beheben.

Angenommen, es kommt zur Ausgangssperre. Eine Familie wohnt in einem Mehrfamilienhaus ohne Terrasse- oder Gartenzugang. Was löst eine solche Situation im Innersten dieser Menschen aus?

Eine Ausgangssperre würde die Situation der Einsamkeit und der häuslichen Konflikte sicher verstärken. Sollte eine Ausgangssperre aus medizinischen Gründen notwendig werden, wäre die Selbstfürsorge im Sinne der oben erwähnten zehn Schritte für psychische Gesundheit umso wichtiger. Die oben erwähnten Angaben für Kinder eignen sich gut auch zur Unterstützung von Familien.

Zuletzt noch ein Blick in die Zukunft: Wie lange werden die psychischen Nachwirkungen der Corona-Krise in der Bevölkerung spürbar sein?

Die Nachwirkungen der Pandemie sind schwierig einzuschätzen, denn sie hängen mit vielen Faktoren zusammen. Der direkte Effekt durch Stress, Depression, posttraumatische Belastungsstörung etc. kann über mehrere Wochen bis Monate anhalten. Zudem muss aber berücksichtigt werden, dass die Pandemie auch gesellschaftliche und finanzielle Folgen nach sich zieht. Menschen kommen in finanzielle Engpässe, verlieren vielleicht den Arbeitsplatz oder haben nahestehende Personen verloren. All dies kann indirekt langanhaltende Folgen haben.

Simone Zwinggi ist Redaktorin bei Zeitung und Online. Nach einem Sportstudium wendete sie sich dem Journalismus zu. Sie ist hauptberuflich Mutter, arbeitet in einem Teilzeitpensum bei der «Südostschweiz» und hält Anekdoten aus ihrem Familienleben in regelmässigen Abständen im Blog Breistift fest. Mehr Infos

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