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Ausstellung in der Kantonsbibliothek Graubünden: Die Wissenschaft des Reisens

Die Apodemik war vom 16. bis 18. Jahrhundert eine populäre Wissenschaft – eine Ausstellung in der Kantonsbibliothek Graubünden zeigt, was dahinter steckt

Bündner Woche
01.03.23 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Wikipedia von gestern: Das «Theatrum Vitae Humana»e ist ein bedeutendes enzyklopädisches Werk des 16. und 17. Jahrhunderts.
Wikipedia von gestern: Das «Theatrum Vitae Humana»e ist ein bedeutendes enzyklopädisches Werk des 16. und 17. Jahrhunderts.
Laura Kessler

von Laura Kessler

«Reisen sei nichts anderes, als die Arbeit, fremde Länder zu besuchen und zu durchstreifen, und zwar nicht jedes beliebige, und auch nicht blindlings. Vielmehr soll man die Reisen auf sich nehmen, bei denen man in seinen Fähigkeiten etwas dazulernen oder üben kann, sodass man schliesslich tüchtig Erfahrung sammelt, oder solche Reisen, deren Nutzen in irgendeinem allgemeinen Nutzen liegt.» Hieronymo Turler hatte in seinem 1591 veröffentlichten Werk «De peregrinatione & agro Neapolitano libri duo» eine genaue Vorstellung davon, was Reisen sein soll: in erster Linie Arbeit, die einen Zweck zu erfüllen hat. Darin ist er sich mit Samuel Zwicker einig, der im 17. Jahrhundert das Reisen als «einen Ortswechsel (…)» bezeichnete, «(…) um dort irgendein Gut zu erwerben, das entweder dem Vaterland und den Freunden oder uns selbst nützlich sein könnte».

Heute ist das Reisen anders, wird anders definiert. Laut Duden ist es schlicht die Fortbewegung über eine grössere Entfernung. Obwohl: «Über Sinn und Zweck des Reisens wird auch heute noch diskutiert, einfach mit anderen Fragestellungen», sagt Vera Lütscher von der Kantonsbibliothek Graubünden. Sie kuratiert die aktuelle Ausstellung «Apodemik – über die Wissenschaft des Reisens», die noch bis am 10. März in der Kantonsbibliothek zu sehen ist.

Die Apodemik. Die Wissenschaft des Reisens. Eine tote Wissenschaft. Im 16., 17. und 18. Jahrhundert war sie aber hoch im Kurs. «In einer Zeit, in der aus allem eine Wissenschaft gemacht wurde»,bemerkt Vera Lütscher, während sie in eine der Vitrinen mit Reiseliteratur schaut. Die Apodemik war der Versuch, eine theoretische Grundlage für das Reisen zu schaffen. Es ging darum, durch eine wissenschaftliche Herangehensweise umfassende Informationen zu einem Land zu sammeln und festzuhalten. Passend für diese Zeit, in der es das Ziel der Humanisten war, das gesamte Wissen zu sammeln und an einem Ort zu konservieren. Ein bedeutendes Werk im 16. und 17. Jahrhundert stellte dann auch das «Theatrum Vitae Humanae», ein enzyklopädisches Werk von Theodor Zwinger, dar. Das Theatrum sollte alles Wissen vereinen. «So, wie Wikipedia heute», sagt Vera Lütscher. Die älteste Auflage mit 1500 Seiten ist in der Kantonsbibliothek ausgestellt.

Klein aber fein: Die Ausstellung zeigt Apodemiken und Reiseliteratur.
Klein aber fein: Die Ausstellung zeigt Apodemiken und Reiseliteratur.
Die Apodemik entstand aus dem Bedürfnis, wissenschaftlich über das Reisen schreiben zu können. Der Apodemik voraus gingen zahlreiche Reiseberichte. Jedoch konnten diese nicht verifiziert werden und es stellte sich im Nachhinein oftmals heraus, dass in den Berichten masslos übertrieben wurde. Auf die Spitze trieb es der in England lebende Franzose George Psalmanazar. Er behauptete, aus Formosa, dem heutigen Taiwan, zu stammen. Doch lassen wir ihn erzählen...
Anleitung zum Reisen: das liefern Apodemiken.
Anleitung zum Reisen: das liefern Apodemiken.

Es war auch das Ziel einer jeden Apodemik, umfassend zu sein. Beginnend mit einer Definition des Reisens, kam bald die Frage nach Sinn und Zweck desselben auf. «Reisen war Teil der Ausbildung. Das durch Reisen erlangte Wissen sollte dem Vaterland und der Allgemeinheit dienen», erklärt Vera Lütscher. Auch praktische Informationen waren Teil einer jeden Apodemik: Wie packen, wie beten, wie Währungen umrechnen, wie Fragen stellen, wie Tagebuch führen. Witzig – zumindest aus heutiger Sicht – ist eine Packliste von 1799. Laut jenem Autor genügen zum Reisen Schuhe, Strümpfe und ein Stock. Im Gegensatz dazu umfasst die Packliste eines Wanderführers von 1997 über 80 Artikel. Auch amüsant: die Art und Weise, wie Tagebuch geführt werden musste. Man brauchte dafür nämlich ganze vier Bücher. Eines, um die Beobachtungen notizartig niederzuschreiben, zwei, um die Notizen ins Reine zu schreiben, – zwei, weil eines verloren gehen könnte – und eines, um Fakten festzuhalten, in diesem Fall also eine Enzyklopädie zu erstellen.

Schlussendlich ging es darum, Land und Leute genauestens kennenzulernen. Die Apodemik war das Werkzeug dazu. Viele Apodemiken sind deshalb auch in Volkssprachen und nicht in Latein verfasst, weil sie für jedermann zugänglich sein sollten. Es galt, mehr über das Klima, die Geografie, die Tierwelt, die Menschen, die Sprache, die Religion, die Bräuche, das Finanzwesen, das politische System und und und herauszufinden. «Nur durfte man ja nie als Spion gelten», bemerkt Vera Lütscher. Im «Patriotic Traveller» von Leopold Graf Berchtold sind für die theoretische und praktische Reflexion über das Reisen ganze 2443 Fragen aufgelistet, die es auf der Reise zu stellen gilt. Auch über sein Werk erfahren die Besuchenden mehr in der Ausstellung.

Das Reisen nahm Fahrt auf. Die Wissenschaft des Reisens aber versandete Ende des 18. Jahrhunderts, da sich die Wissenschaften und die Art des Forschens spezifizierten. Auch die Idee des Reisens wurde eine andere. Man reiste vermehrt aus touristischen Gründen, aus Eigeninteresse. Und auch nicht mit dem Anspruch, Land und Leute im Detail kennenzulernen. So änderte sich auch die Reiseliteratur über die Jahrhunderte. Heute findet man Teile einer Apodemik zwar immer noch in Reiseführern, zum Beispiel in Form von praktischen Tipps, doch schreibt und liest man heute viel spezifischer – über ein Land, eine Region oder eine Art des Reisens. Nur über Sinn und Unsinn des Reisens spricht man immer noch. Ein wenig lebt die Apodemik also doch weiter.

Die Ausstellung «Apodemik – die Wissenschaft des Reisens» ist bis am 10. März während der Öffnungszeiten der Kantonsbibliothek Graubünden zugänglich.

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