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Die Proxemik des Danachs

Südostschweiz
22.06.20 - 04:30 Uhr

Das Zusammenleben der Sprachen und Kulturen in Graubünden: Das ist das Thema der Kolumne «Convivenza», die wöchentlich in der «Südostschweiz» und der romanischen Tageszeitung «La Quotidiana» publiziert wird.

Von Federico Godenzi*

Monate der Unsicherheit liegen hinter uns. Im Laufe weniger Wochen sind unsere Gewohnheiten auf den Kopf gestellt worden; plötzlich konnten wir einander nicht mehr die Hand reichen, uns unter Freunden nicht mehr umarmen, uns in Gruppen nicht mehr treffen, nicht mehr frei unsere Häuser verlassen. Jetzt beginnt das Leben wieder und wir alle möchten zur Normalität zurückkehren… Doch auch wenn die Strassen wiederbelebt sind, wurden die Veranstaltungen im Sommer grösstenteils abgesagt, die Schulen nur mit reduzierten Klassen wieder geöffnet, zwischen den Tischen in den Bars stehen Barrieren aus Plexiglas, und das Lächeln bleibt oft hinter den Masken verborgen.

Es ist naheliegend, sich zu fragen, welche Auswirkungen dies alles auf unseren Lebensstil haben wird. Da und dort hört man die Leute sagen, es sei nicht notwendig, einander die Hand zu reichen, dass Küsse und Umarmungen nunmehr überholt seien, dass es besser wäre, auf gewisse Gewohnheiten zu verzichten. Und doch denke ich, dass gerade diese Lust auf das Teilen, auf das Beisammensein, die proxemischen Barrieren einzureissen und immer mehr die Grenzen zwischen Persönlichem und Sozialem zu verwischen, dazu beigetragen hat, unseren Lebensstil über die Jahre hinweg zu definieren.

In seinem «Decameron», das er zu Zeiten der Pest 1348 schrieb, beschreibt Giovanni Boccaccio treffend die Wirkung, welche die Angst auf das soziale Umfeld haben kann: «Diese Pest hatte noch mehr Kraft, denn sie übertrug sich von den Gesunden auf die Kranken durch die unvermeidlichen Kontakte […]. Diese und andere schlimmere Tatsachen liessen Ängste und Vorstellungen bei den Überlebenden aufkommen, und alle neigten zu einem grausamen Ende, den Kranken und ihren Dingen aus dem Weg zu gehen. […] Und vergessen wir, dass ein Bürger den anderen mied und die Verwandten einander selten oder nie besuchten: Diese Angst um eine ähnliche Abscheu war in die Brust aller gedrungen bis zum Punkt, dass ein Bruder den anderen verliess und die Schwester den Bruder und oft die Frau den Ehemann; und das Schlimmste ist, die Väter und Mütter gingen die eigenen Kinder nicht mehr besuchen» (angepasste Umschreibung aus «Vivere la letteratura», Zanichelli 2019).

Ich will nicht an eine derartige Gesellschaft denken, ich will mir auch nicht vorstellen, dass all dies eines Tages wieder Realität werden könnte. Lieber verlasse ich mich auf die Worte einer anderen Grösse unserer Literatur. Auch Beppe Fenoglio erlebte am eigenen Leib eine schreckliche Pest, und sein sozialer Abstand wurde von der Notwendigkeit diktiert, sich vor der Verfolgung während der Jahre der Resistenza zu schützen. Und doch, auch in jener dramatischen Situation hörte er nie auf, an das Ende des Albtraums zu glauben, an die Möglichkeit, dass die Gesellschaft ein neues Kapitel aufschlagen könnte und gemeinsam die Schönheiten des Lebens geniessen könnte. «Von heute Abend an will ich mich überzeugen, dass unsere Männer wieder wie einst zu den Gewerbeausstellungen und Märkten gehen können. Die Jugend wird draussen tanzen können, die jungen Frauen werden gerne schwanger werden und wir Alten werden in unseren Hof hinaus gehen. Und an den schönen Abenden werden wir hinausgehen können und zu unserem Vergnügen die Beleuchtung der Dörfer betrachten können.» (Anpassung von «Una questione privata», 1963).

*Federico Godenzi aus dem Puschlav hat an der Universität Freiburg italienische Sprache und Literatur sowie Geschichte studiert. Er lehrt er an der Bündner Kantonsschule Chur.

 

La prossemica del dopo

Di Federico Godenzi*

Stiamo per lasciarci alle spalle mesi d’insicurezza. Nel giro di poche settimane le nostre abitudini sono state messe a soqquadro; d’improvviso non abbiamo più potuto stringerci la mano, abbracciarci tra amici, incontrarci in gruppi, uscire liberamente dalle nostre case. Ora la vita sta ripartendo e tutti abbiamo una gran voglia di tornare alla normalità… Eppure, anche se le strade si stanno ripopolando, le manifestazioni estive sono state perlopiù annullate, alcune scuole riaperte solo in classi ridotte, tra i tavolini dei bar si ergono barriere in plexiglas e molti sorrisi rimangono celati dalle mascherine.

È naturale chiedersi quale impatto avrà tutto questo sul nostro stile di vita. Qua e là già si sente affermare che, in fondo, non è necessario stringerci la mano, che baci e abbracci sono gesti ormai superati, che ad alcune abitudini sarebbe meglio rinunciare. Eppure credo che proprio questa voglia di condividere, di stare insieme, di abolire le barriere prossemiche fondendo sempre più i confini della zona personale e sociale abbia contribuito a definire negli anni il nostro modo di vivere.

Nel suo «Decameron» scritto ai tempi della peste del 1348, Boccaccio ben descrive gli effetti devastanti che la paura dell'altro può causare sul tessuto sociale: «Questa pestilenza ebbe maggior forza poiché si trasmetteva dai malati ai sani attraverso gli inevitabili contatti […]. Questi e altri fatti peggiori fecero nascere paure e immaginazioni in quelli che restavano vivi, e tutti tendevano a uno stesso fine crudele, evitare e fuggire i malati e le loro cose. […] E lasciamo stare che un cittadino evitasse l’altro e i parenti insieme rare volte o mai si facessero visita: questa angoscia per un simile orrore era entrata nei petti di tutti a tal punto che un fratello abbandonava l’altro e la sorella il fratello e spesso la donna il marito; e cosa più grave è che i padri e le madri evitavano di andare a trovare e di aiutare i propri figli» (parafrasi adattata da «Vivere la letteratura», Zanichelli 2019).

Non voglio pensare a una società del genere, non voglio nemmeno immaginare che tutto questo possa diventare, un giorno, nuovamente realtà. Preferisco affidarmi alle parole di un altro grande della nostra letteratura. Anche Beppe Fenoglio visse sulla propria pelle una peste terribile e la sua distanza sociale fu dettata dalla necessità di porsi al riparo dalla persecuzione durante gli anni della Resistenza. Eppure, anche in quella situazione drammatica, non smise mai di credere nella fine dell'incubo, nella possibilità che la società potesse presto voltare pagina, tornando a vivere e condividere la bellezza della vita: «Da stasera voglio convincermi che i nostri uomini potranno andare alle fiere e ai mercati come una volta. La gioventù potrà ballare all’aperto, le donne giovani resteranno incinte volentieri, e noi vecchi potremo uscire sulla nostra aia. E, le sere belle, potremo uscire fuori e per tutto divertimento guardarci e goderci l’illuminazione dei paesi» (adattamento da «Una questione private», 1963).

*Federico Godenzi, valposchiavino, ha studiato lingua e letteratura italiane e storia all’Università di Friburgo. Insegna alla Scuola Cantonale Grigione di Coira.

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