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Leseperlen in der Corona-Pause (I)

Hans Peter
Danuser
24.04.20 - 07:03 Uhr
BILD WIKIPEDIA
BILD WIKIPEDIA

Hans Peter Danuser und Amelie-Claire von Platen sind im Engadin zu Hause und zeigen uns ihren Blickwinkel. Was bewegt Land und Leute? Wo ist das Engadin stark und wo hinkt es einzelnen Mitbewerbern hinterher? Und was geschieht auf politischer Bühne? Der Blog «Engadin direkt» berichtet persönlich und authentisch.

Ob wir die Corona-Zeit bei Fuss-, Velo- oder Skitouren in den Bergen verbringen oder im Hausarrest in Italien – Zeit fürs Lesen finden wir plötzlich überall. Und dank Internet liegen auch jeden Morgen die aktuellen Ausgaben der Tageszeitungen vor. Sie inspirieren zu allerlei Lesestoff, auf den wir ohne Quarantäne nie gekommen wären.

Beispiel NZZ-E-Paper vom 23. März: eine ganze Seite zum 120. Geburtstag und 40. Todestag von Erich Fromm, der vor 50 Jahren nicht nur bei Studenten Kult war. Sein Bestseller 'Die Kunst des Liebens' erreicht mittlerweile eine Auflage von gegen 25 Millionen, was keinem anderen Buch zur Psychologie der Liebe je gelungen ist, Ovids 'Ars amatoria' inklusive.

Und tatsächlich finde auch ich mein persönliches Exemplar unter den Sachbüchern im Regal wieder: ein vergilbtes graues Ullstein-Taschenbuch von 1971, voller Anmerkungen und Zeichen aus meiner damaligen Sturm-und-Drang-Zeit. Fasziniert lese ich das Büchlein nochmals durch und weiss nun plötzlich, woher ich viele meiner heutigen Credos, Werte und Überzeugungen habe – obwohl wir inzwischen in einer total anderen Welt leben als damals. Das zeigt auch, warum Fromm und seine Werke weiterhin so gut verkauft werden und gerade in Zeiten von Corona brandaktuell sind.

Dabei passen Fromms Erkenntnisse und Empfehlungen überhaupt nicht zu unserer oberflächlichen und hektischen Konsumwelt. Liebe ist für ihn nicht einfach die Bindung an eine bestimmte Person, sondern eine Lebenshaltung. Sie basiert auf Fürsorge, Verantwortung, Geduld und Wissen, mit denen ein Mensch seinen Mitmenschen, anderen Lebewesen, der Natur und der ganzen Welt begegnet. So wird das Leben gut und schön.

Wer es in der Kunst der Liebe allerdings zur Meisterschaft bringen wolle, brauche dazu – wie in anderen Künsten – Disziplin, Konzentration, Geduld und unbedingtes Interesse in jeder Phase seines Lebens. In der täglichen Praxis des Liebens sind Empathie, Achtsamkeit, Objektivität und Vernunft entscheidend. Der Glaube an das Gute, die Möglichkeiten und Chancen auch in Pech und schwierigen Situationen prägen den Charakter gereifter Persönlichkeiten und schaffen Vertrauen in sich selbst und beim Mitmenschen.

Erich Fromms 'Kunst des Liebens' erschien 1956. Zusammen mit seinem weiteren Kultbuch 'Haben oder Sein', das er zwischen 1974 und 1976 in Locarno verfasst hatte, prägte das Bändchen Generationen von sogenannten «Softies und Weicheiern», die lästige Fliegen im Wohnzimmer nicht einfach zerquetschen, sondern vorsichtig aus dem Fenster wedeln, weil auch sie faszinierende Organismen sind und zum Kosmos gehören.

Diese Pfadi-Ethik (plus täglich eine gute Tat) ist zu Zeiten von «America first!» nicht angesagt und exakt das Gegenteil dessen, was das populistische «Macho-Pack» derzeit in USA, Russland, Brasilien, der Türkei und weiteren  Ländern aufführt. Sie beherrschen die Kunst der Macht statt der Liebe und haben in ihrer Jugend sicher nicht Erich Fromm studiert, wenn sie überhaupt etwas gelesen haben.

Fromm zählt in den USA auch 40 Jahre nach seinem Tod zu den bekanntesten Psychoanalytikern der Gesellschaft und hat viele Jahre in Locarno gewirkt. Sein damaliger Assistent Rainer Funk leitet heute das Erich-Fromm-Institut in Tübingen.

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