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Die beste Medizin gegen das Twitter-Gehirn ist die Zeitung

Andrea
Masüger
06.07.19 - 04:30 Uhr
Twitter-Election Labels
FILE - This July 9, 2019, file photo shows a sign outside of the Twitter office building in San Francisco. Twitter is bringing back special labels to help users identify accounts and tweets from U.S. political candidates. The company, which first used suc

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Sie haben es sicher bemerkt: Die Zeitung, die Sie gerade lesen, ist eine andere als das Exemplar der Vorwoche. Die «Schweiz am Wochenende» mit ihren verschiedenen Regionalausgaben wurde typografisch modernisiert und neu gestaltet. Das ist ja interessant: Alle reden vom unaufhaltsamen Zeitungssterben, von Menschen, die – wenn sie überhaupt noch lesen – dies nur digital tun und zudem ihre Informationshäppchen an den verschiedensten Orten beziehen. Und nun kommt ein grosser Titel daher und marschiert frohgemut mit neuem Kleid und neuem Elan in die gedruckte Zukunft.

So absurd ist das nicht. Aus den USA wird berichtet, dass die zwischen 1985 und 2000 geborenen sogenannten Millennials genug haben von digitalem Durcheinander, von Infos auf Social Media und von Fake News. Obwohl sie vollkommen digital aufgewachsen sind, greifen über 30 Prozent von ihnen wieder zu gedruckten Medien und lesen inzwischen mehr konventionelle Bücher als E-Books. Das Schlagwort von der «digitalen Erschöpfung» («digital fatigue») macht die Runde.

Offensichtlich merken nun auch die jüngeren Leser, dass Lesen via Bildschirm oder Screen nicht das Gleiche ist wie mittels Papier. Dazu gibt es mehrere Untersuchungen. Eine Analyse von über 50 Studien, für die Tausende Menschen erfasst wurden, zeigt es klar: Papierleser verstehen den gelesenen Text insgesamt besser als Digitalleser, sie können sich später genauer an Textdetails erinnern und gelesene Handlungen klarer nacherzählen. Mit anderen Worten: Gedrucktes bleibt länger haften.

Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf, die zu diesem Thema ein demnächst erscheinendes Buch geschrieben hat, unterscheidet zwei Arten des Lesens: Das oberflächliche, digitale Lesen auf dem Bildschirm, das auf schnelle, temporeiche Informationsaufnahme ausgerichtet ist, und das «tiefe», zeitaufwendige Lesen auf Papier, das hilft, die Informationen besser zu verarbeiten und zu behalten. Beim gedruckten Wort greift zudem ein «räumlicher Hilfsmechanismus»: Ich kann mich an bestimmte Textpassagen in einem Buch erinnern und weiss genau, wo sie stehen, während ich nach der Digitallektüre nicht einmal mehr weiss, wo ich was gelesen habe. Die Bündelung des Textes in einem Format, in einer Zeitung oder einem Buch, erhöht das Verständnis; die Auflösung aller Formen in unterschiedlichsten (Digital-)Ausspielungen hingegen lässt das Gelesene schnell zerbröseln.

Wenn wir nur noch digital lesen, sagt Wolf, «bekommen wir alle Twitter-Gehirne». Und: «Der Verlust des Tiefenverständnisses und analytischen Denkens ist ein Kollateralschaden unserer digitalen Kultur.» Wolf geht deshalb davon aus, dass rein digitales Lesen sogar zu einer Verkümmerung des Denkens führt mit Folgen bis hin zu einer Einschränkung der direkten Demokratie. Kein Wunder, warnen auch Experten davor, Lehrmittel für Kinder nur noch digital auszuspielen. Es geht also nicht nur um Zeitungen und Bücher, sondern um das generelle Verhalten bei der schriftlichen Informationsaufnahme.

Wer Zeitungen weiterhin auf Papier liest (oder sie als E-Paper konsumiert, was dem analogen Lesen sehr nahe kommt), wird die Welt gewinnen, weil er sie besser versteht als jene, die sich mit allerhand Informationsschnipseln begnügen. Deshalb wird diese Zeitung, die Sie jetzt in Händen halten, nicht einfach noch pro forma ein bisschen weiter herausgegeben, nein, sie wird trotz aller Unkenrufe der Medienwissenschaft sogar noch erneuert.

Die Zeitung ist die am längsten lebende Tote, die es je gab!

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