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Ist ein deutscher Bub wertvoller als ein Knabe aus Kosovo?

Andrea
Masüger
10.08.19 - 04:30 Uhr
PIXABAY
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In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

 

Im März erstach in Basel eine fünfundsiebzigjährige Frau einen siebenjährigen Bub auf offener Strasse. Sie hatte das Kind nicht gekannt. Vor wenigen Tagen stiess ein aus der Schweiz eingereister Eritreer eine Mutter mit ihrem acht Jahre alten Sohn im Frankfurter Bahnhof vor einen einfahrenden Zug, das Kind kam uns Leben. Dem Täter waren sowohl Mutter wie Kind unbekannt. Die Taten sind vergleichbar: Sie erscheinen vollkommen unplausibel und höchst irritierend. Wohl deshalb, weil sie in beiden Fällen von psychisch kranken Personen begangen wurden.

Und dennoch haben sie ein völlig unterschiedliches Echo ausgelöst. Der Basler Fall entsetzte die Schweiz nur kurze Zeit, danach ging man zur Tagesordnung über. Die Frankfurter Tat hingegen hat nicht nur Deutschland, sondern halb Europa durchgerüttelt. Tagelang waren im Netz dümmste und brutalste Hasskommentare gegen Ausländer zu lesen. Die AfD sah die Bundesrepublik ein weiteres Mal von der Regierung verraten. Im Aargau forderte der Präsident der doch so gemässigten und vernünftigen BDP die Todesstrafe für den Täter.

Ja, sollte denn die Basler Rentnerin auch auf den elektrischen Stuhl? Oder kann man mit ihr milder verfahren, weil ihr Opfer bloss ein kosovarischer Junge war, also ein Migrantenkind der Neunzigerjahre?

Die Fragen zeigen die Absurdität der Situation. Viele Gewalttaten nimmt die Gesellschaft mit einem Schulterzucken hin. Andere steigert sie in ihrer Bedeutung ins Unermessliche. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer brach nach der Frankfurter Tat seine Ferien ab und organisierte eine hastige und absurde Pressekonferenz, an der er sich darüber aufregte, dass gewisse Funktionäre das grossflächige Anbringen von Barrieren an Bahnsteigen für übertrieben und zu teuer halten. Danach verkündete er vermehrte Grenzkontrollen auch zur Schweiz hin, weil der Eritreer aus dem sicheren Helvetien unbehelligt nach Deutschland gelangen konnte.

Augenscheinlich zahlt es sich aus, wenn Politiker nicht nur mit Kanonen, sondern mit einem ganzen Armeekorps auf Spatzen schiessen. Der Minister und seine gebeutelte CSU erscheinen endlich wieder mal als entschlossen und tatkräftig, selbst wenn – oder weil – sie absurde Sicherheitsmassnahmen fordern, die eine Woche später wieder vergessen sind. Dabei geht unter, dass sich die Bundesrepublik auch unter Seehofer als unfähig erwiesen hat, konkret tatverdächtige Terroristen von der Gesellschaft fernzuhalten und dass sie regelmässig sträflich nachlässig ist, wenn solche abgeschoben werden sollen.

Die Politik widmet sich den falschen Problemen. Seit im Jahr 2011 in Norwegen Anders Breivik 69 sozialdemokratische Jugendliche auf einer Ferieninsel massakrierte, haben sich solche rechtsextreme Taten gehäuft. Nach dem Attentat auf zwei Moscheen in Christchurch vom März dieses Jahres bilden die 26 Toten in einem Supermarkt in El Paso von letzter Woche den vorläufigen traurigen Höhepunkt. Man nennt diese Täter Suprematisten, weil sie an den Glanz und die Vorherrschaft der weissen Rasse glauben und alles Fremde niedermachen wollen. Sie stellen vor ihren Taten Hassbotschaften ins Netz, faseln von einem «Bevölkerungsaustausch», der die Einheimischen gegen die Migranten in die Minderheit versetze und stellen ihre Amokläufe als Notwehr dar. Ihr Verhaltensmuster ist fast deckungsgleich. Und die Täter sind alles andere als Flüchtlinge, sondern treue Bürger ihres Landes.

Gegen solche teuflische Weltverbesserer muss sich die Politik wappnen. Stattdessen nehmen die Deutschen nur die Nationalität der Täter ins Visier und leiten daraus terroristische Motive ab. Dies ist im Falle des Eritreers so, wie auch bei einem weiteren Migranten, der kürzlich in Stuttgart auf offener Strasse einen Mann mit einem Schwert tötete und bei einem Afghanen, der seine Frau umbrachte. Diese isolierten Einzeltaten sind tragisch, aber sie bilden kaum einen geschlossenen Problemkreis.

Doch weil bei der Bevölkerung solche Taten ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit wecken, das gerne mit dem Fremden verbunden wird, betreiben die Politiker nicht Aufklärung, sondern betätigen sich als Gefühlsverstärker. Deshalb baut Seehofer nun die Zollkontrollen in St. Margrethen aus, auf dass dort mal ein psychisch Auffälliger hängen bleibe.

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