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Wir sind daran, die Vernunft in den Kerker zu werfen

Andrea
Masüger
31.08.19 - 04:30 Uhr
Brazil Bolsonaro
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro.
KEYSTONE

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Der bekannte amerikanische Historiker Niall Ferguson hat diese Woche in der NZZ beschrieben, wie wichtige Staatsmänner in diesen struben Zeiten ungebremst auf den Abgrund zufahren. So vergleicht er das Verhalten des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro mit der berühmten Wettfahrt von James Dean und seinem Freund im Filmklassiker «Denn sie wissen nicht, was sie tun» aus dem Jahre 1955. Die beiden fahren mit zwei Autos mit Vollgas auf eine Klippe zu – wer zuerst raus-springt, ist der grosse Feigling. Nur einer der beiden überlebt.

Dieses Feiglingsspiel praktizieren heute Politiker auf dem ganzen Erdball, von Bolsonaro über Trump bis zu Salvini. Dabei geht es nicht ums Leben zweier Pubertierender, sondern um die Zukunft der Menschheit und des Planeten. Es sind aber nicht nur die sich explosionsartig verbreitenden politischen Narzissten in hohen Staatsämtern, welche diese Spiele auf die Spitze treiben. Fast noch schlimmer sind ihre willfährigen Helfer, die sich in Form normaler Bürger überall eingenistet haben. Diese haben sich darauf spezialisiert, den Feiglingsspielern die Fahrbahn freizuhalten.

Ein Beispiel: Jürg Rohrer, Professor für Umwelt-Engineering an der Hochschule ZHAW in Wädenswil, hat in einer zweiteiligen Artikelserie in dieser Zeitung den neuesten wissenschaftlichen Stand zur Klimaerwärmung dargestellt. Er breitete Zahlen und Fakten aus, die vom Weltklimarat erarbeitet wurden und die in der Forschung als gesichert gelten. Prompt wurde er von Leserbriefschreibern attackiert, welche nicht nur die Zahlen und die Schlüsse daraus bestritten, sondern auch abenteuerliche Rechnungen anstellten, die darauf hinauslaufen, dass es keinen oder nur ganz wenig Klimaschutz braucht.

Die Administration Trump hat uns gelehrt, dass im postfaktischen Zeitalter empirische Erkenntnisse nicht mehr notwendig sind. Alles kann bezweifelt werden, alles kann behauptet werden und Wahrheit ist, was am lautesten herüberkommt. Die Wissenschaft, die früher ehrfürchtig angehört wurde, verkommt so zu einem blossen Player im Spiele aller. Die Stimmen solcher Leserbriefschreiber sind heute überall, in den sozialen Medien ebenso wie in Parteizentralen und Propagandaabteilungen aller Art. Aufgrund der stets ähnlichen Argumentationen kann man schliessen, dass sie kampagnenmässig gesteuert werden mit Spin-Doctors im Hintergrund, die «Argumente» liefern.

Der Diskurs in einer Demokratie beruht darauf, dass man sich auf Erkenntnisse und Grundlagen stützt, über deren Seriosität Konsens besteht. Wenn die Wissenschaft sagt, dass es am besten wäre, ab dem Jahr 2030 keine Klima-gase mehr zu emittieren, dann ist dies als Fakt hinzu-nehmen. Darauf gestützt kann man dieses Ziel politisch beurteilen: Man kann Klimaschutzmassnahmen gänzlich ablehnen oder mit unterschiedlichem Schärfegrad solche beschliessen. Dann besteht politische Transparenz. Bezweifelt man aber die wissenschaftliche Basis, wird dieser ganze Prozess torpediert.

Mit anderen Worten: Diese postfaktischen Dunkelmänner höhlen die Demokratie aus. Sie verunsichern die Gesellschaft, zetteln unnötige Diskussionen an und vernebeln den Blick auf die Traktandenliste. Das läuft auf eine Art generelle Filibusterdebatte hinaus: Alles wird unendlich zerredet. Schlimmer noch, diese Entwicklung ermöglicht es den verantwortlichen Akteuren, sich aus der Verantwortung zu stehlen: Ich kann ja gar nichts entscheiden, wenn die Grundlagen dazu fehlen! So verhindert man, dass dereinst die Geschichte darüber urteilen kann, wer im Jahre 2019 das Richtige getan hat.

Vor der Aufklärung war die Vernunft als universelle Urteilsinstanz noch ein unbekanntes Wesen. Dieses Prinzip musste in mühseligen geistigen und politischen Kämpfen erarbeitet werden und das Ergebnis waren Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Heute arbeiten einige hart daran, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Unser westliches Politsystem scheint in einer Zeitmaschine ins voraufklärerische Zeitalter zurückkatapultiert worden zu sein.

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