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Wird die Rebellion fürs Überleben zu einer Kraft wie die 68er?

Andrea
Masüger
12.10.19 - 04:30 Uhr
KEYSTONE
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In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Begonnen hat es harmlos am 20. August des letzten Jahres. Ein kleines, etwas verschüchtert und dennoch trotzig wirkendes Schulmädchen stand mit einem Transparent vor dem schwedischen Reichstagsgebäude und protestierte gegen die zunehmende Klimaerwärmung. Was als eine Art Kindergarten-Aufstand begann, wurde innerhalb von zwölf Monaten zu einer globalen, umfassenden Protestbewegung: Fridays for Future. Inzwischen gehen für diese Ideen sogar im beschaulichen Bern an einem Samstag 60 000 Menschen auf die Strasse.

Zwar hat Greta Thunberg den Friedensnobelpreis gestern nicht erhalten. Aber es ist bezeichnend, dass sie in breiten Kreisen als Kandidatin gehandelt wurde. Schon dieser Umstand spricht Bände über die Dynamik, welche die Klimabewegung in kürzester Zeit ausgelöst hat. Da nützt es auch nichts, wenn sich versteinerte Herren wie Donald Trump oder Roger Köppel über die 16-Jährige lustig machen.

Und nun verschärft sich die Tonlage. Die manchmal etwas verträumt wirkende Fridays-of-Future-Bewegung macht zunehmend einer radikaleren Variante Platz, die sich «Rebellion gegen das Aussterben» nennt: Extinction Rebellion, abgekürzt XR. Diese meint, legale Demos und weltweite Aufrufe brächten zu wenig, um die Menschheit aufzurütteln, es brauche aktiven Widerstand, zivilen Ungehorsam und auch Gesetzesverstösse. Die XR-Aktivisten blockieren in Berlin, London und Amsterdam den Verkehr, klettern auf Züge, legen Flughäfen lahm und färben in Zürich die Limmat grün. Die Polizei lässt sie nicht gewähren wie die Freitagsdemonstranten, sondern verhaftet sie zu Hunderten.

Diese Verschärfung des Protestes erinnert an andere Bewegungen, die in der Vergangenheit sozusagen aus dem Nichts exponentiell aufgepoppt sind: die Anti-AKW-Bewegung, wo man sich an Bahngeleise ankettete, und Greenpeace mit ihren spektakulären Aktionen zu Lande und zu Wasser. Oder hat sie gar Parallelen zur 68er-Bewegung, die in einem ebenso umfassenden Sinn gesellschaftliche Veränderungen forderte? Und zu den Jugendunruhen der Achtzigerjahre, wo die Jungen fassungslos in eine leere Zukunft blickten? Doch Extinction Rebellion ist vorläufig noch als friedliche Bewegung definiert, die keine Gewalt anwenden will, ganz im Gegensatz zur Situation von 1968 und 1980.

Immer mehr Menschen sehen ihre Lebensgrundlagen nicht mehr durch den Staat garantiert. Bewusst oder unbewusst nehmen sie für sich und für die Gesellschaft ein Widerstandsrecht in Anspruch, eine Art Naturrecht, das es erlaubt, sich gegen eine Ordnung aufzulehnen, welche die Welt und die eigene Existenz gefährdet. Sie gehen davon aus, dass die meist halbherzigen Klimamassnahmen der Politik nicht ausreichen werden, um ein Überleben auf dem dritten Planeten unseres Sonnensystems zu gewährleisten.

Die 68er-Bewegung, damals vom Establishment erbittert bekämpft, hat die Welt dennoch gravierend verändert. Es ist gut möglich, dass eine umfassende und auch radikaler werdende Klimabewegung eine ähnliche Umgestaltung nach sich ziehen wird. Später ist «68» in Teilen Europas allerdings in die dunkle und bleierne Zeit des Terrorismus gekippt. Man kann nicht vollständig ausschliessen, dass auch eine sich noch stärker radikalisierende Klimabewegung die Gewaltfreiheit beiseitelegen wird, wenn der Eindruck entsteht, die Staaten würden die Erderwärmung zu wenig konsequent bekämpfen. Schon jetzt warnt die Wissenschaft davor, dass ein halbherziges Vorgehen das 1,5-Grad-Ziel bei Weitem verfehlen wird und dass wir auf eine Zwei- oder gar Drei-Grad-Zukunft zusteuern.

Die ruhigen Zeiten, als man den Klimawandel als ein Phänomen begriff, das die heute lebenden Generationen nicht mehr berühren würde, sind jedenfalls vorbei. Der Autor des Buchs «The Uninhabitable Earth», David Wallace-Wells, sagte kürzlich in einem Interview: «Der Klimawandel wird das bestimmende Element des 21. Jahrhunderts sein, so wie es die Moderne für das 19. oder der industrielle Kapitalismus für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war.»

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