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Wenn der ferne Salami die Zürcher lockt

Andrea
Masüger
19.10.19 - 04:30 Uhr
OLIVIA AEBLI-ITEM

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Wer gegenwärtig mit der Bahn in den Süden reist, kann seine blauen Wunder erleben. Die Züge sind grässlich verstopft. Nichts geht mehr. Haben die SBB nach den klemmenden Türen und dem vorzeitigen Abgang ihres Chefs schon wieder ein Problem? Oder sind sie zum Opfer ihrer eigenen Taten geworden? Zeit, um einmal über Ursache und Wirkung in unserer Konsum- und Anspruchsgesellschaft nachzudenken.

Vor dem 1. Juni 2016 kam es niemandem in den Sinn, am Sonntag mal schnell von Zürich nach Lugano zu fahren. Die Bahnfahrt auf der Gotthardstrecke dauerte zu lange. Man sparte sich das Ausflugsziel für ein verlängertes Wochenende oder für die Ferien auf. Doch diese Zeiten sind passé: Alle erinnern sich noch, wie Bundeskanzlerin Merkel, der französische Präsident Hollande und die helvetische Verkehrsministerin Leuthard einträchtig in einem Abteil sassen und durch den nigelnagelneuen Gotthard-Basistunnel flitzten, der seither Zürich und das Tessin in weniger als zweieinhalb Stunden verbindet. Es war eine grosse Stunde für Europa.

Ja, und da ist es auch klar, dass Oma und Opa schnell mal zum Wandern in Mendrisio in den schnellen Sprinter im Zürcher Hauptbahnhof steigen. Abends muss man wieder in Höngg sein, weil die Enkel vorbeischauen. Und weil es auf dem Markt von Luino diesen speziellen Salami gibt und er ohnehin stolzer Besitzer eines GA 1. Klasse ist, brettert der Hobbykoch aus Oerlikon mit dem Zug mal kurz durch die Alpen. Ganz zu schweigen von all den Shoppern, die bahnmässig ordentlich transportiert in die grenznahen italienischen Örtchen einfallen.

Doch eben: Die SBB haben diesem Tun einen argen Dämpfer versetzt. In den letzten Tagen waren wegen des schönen Herbstwetters die Züge hoffnungslos überbesetzt. Dazu kamen technische Störungen, die sich auf die Sitzplatzkapazität negativ auswirkten. Passagiere mussten unterwegs aussteigen und auf einen anderen Zug warten, weil der neue Tunnel aus Sicherheitsgründen nur eine Höchstzahl an Passagieren zulässt. Toiletten waren verstopft. Sogar Reservierungen lösten sich in Luft auf, weil die betreffenden Wagen gar nicht da waren. Skandal! SBB unfähig, neue Gotthardstrecke ordentlich zu bewirtschaften! Nord-Süd-Verbindung vor dem Kollaps! So tönte es danach.

Es ist eine Binsenwahrheit, dass jede Kapazitätsausweitung schlagartig die Nachfrage erhöht. Das sieht man an den Autobahnen, die kaum gebaut bereits rappelvoll sind. Zugverbindungen, welche die Reisezeit verkürzen, steigern die Attraktivität der Linie und führen zu Mehrverkehr. Die SBB können nichts dafür. Allerdings könnten sie die Verbindung auf die Verkehrsspitzen hin konzipieren und bei der neuen Verkehrsministerin eine weitere Gotthardröhre beantragen. Für ein paar Milliarden wäre dies zu machen. Das Problem beisst sich selber in den Schwanz.

Die Schweiz befindet sich in einem permanenten Optimierungsmodus. Alles muss weiter ausgebaut, verfeinert und perfektioniert werden: die Strassen, die Bahn, das Busnetz, die Flughäfen. Jetzt tendenziell wohl eher die Bahn, weil fliegen ja dem Klima schadet. Doch keine Infrastruktur ist klimaneutral. Einigermassen klimaneutral wäre es nur, daheim zu bleiben, um den Zürisee zu wandern und die Wurst beim Metzger an der Ecke zu kaufen.

Die gegenwärtige Umwelt- und Klimadebatte blendet dies völlig aus. Dem Volk wird suggeriert, die Natur lasse sich auch mit dem voll ausgebauten Wohlstandsprogramm ausreichend schonen, mit Massnahmen, die gleichsam niemand merkt. Dieses Zauberprogramm müssten die Politiker einmal genau erklären.

Der Earth Overshoot Day, also der Tag, an dem die Menschheit die Ressourcen der Welt für das laufende Jahr aufgebraucht hat, war heuer am 29. Juli. Im Jahr 1971 war er noch am 21. Dezember. Aber damals brauchte man halt von Zürich nach Lugano mit dem Zug auch noch eine Stunde länger.

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