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Wie lange bleibt ein Zeigerauf fünf vor zwölf?

Andrea
Masüger
30.11.19 - 04:30 Uhr
ARCHIV

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Gestern war Black Friday. Die Leute haben gekauft, was das Zeug hält. Dinge, die sie brauchen und vor allem Dinge, die sie nicht brauchen. Die kollektive Preisunterbieterei der Läden und Geschäfte, die mit der Angst vor dem boomenden Onlinehandel Konsumenten in Massen anlocken, führt zu einer gigantischen Materialschlacht, die Jahr um Jahr grösser wird. Nun machen selbst Läden und Geschäfte mit, die noch vor Kurzem von diesem amerikanischen Kaufrausch nichts wissen wollten.

Die Konsumgesellschaft funktioniert also tadellos. Über die Folgen dieses Tuns sind diese Woche gleich zwei Berichte erschienen. Die Weltorganisation für Meteorologie hält in ihrem neuesten Klima-Bulletin fest, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre innerhalb eines Jahres weiter angestiegen ist. Es gebe keine Anzeichen für eine Verlangsamung des Trends, geschweige denn für einen Rückgang. Ein Report des Umweltprogramms der UNO kommt zum Schluss, dass die Kluft zwischen Anspruch (Pariser Klimaabkommen) und Wirklichkeit weiter zunimmt. Es wird kaum gelingen, die Treibhausgasemissionen so weit zu drücken, dass die Erderwärmung nicht um mehr als 1,5 Grad ansteigt.

Gemäss den UNO-Berechnungen müssten die Emissionen innerhalb der nächsten zehn Jahre um jährlich fast acht Prozent abnehmen, um die Marke von 1,5 Grad zu erreichen und um drei Prozent für jene von 2 Grad. Klimaforscher sagen es schon öffentlich oder zumindest hinter vorgehaltener Hand: Das 1,5-Grad-Ziel ist wohl schon verpasst, das 2-Grad-Ziel stark gefährdet. Es droht also eine Erderwärmung um bis zu 4 Grad. Bei einer solchen Entwicklung wäre das jüngste Hochwasser in Venedig bloss eine Episode für ein Gute-Nacht-Geschichtlein auf dem Kinderkanal.

Nun melden sich natürlich Optimisten und Pessimisten. Die Ersteren meinen, der Mensch habe in seiner Geschichte immer eine Lösung für seine selbst verursachten Probleme gefunden. Sogar im neuen UNO-Bericht heisst es, mit erneuerbaren Energien, mit dem Ausstieg aus der Kohle, mit der Elektrifizierung des Verkehrs und der Dekarbonisierung der Industrie sei bei entschlossenem Handeln noch eine Umkehr ohne Einschränkung des heutigen Lebensstandards möglich.

Die Pessimisten glauben nicht, dass es ohne grossen Verzicht gehen wird. Der deutsche Ökonomieprofessor Niko Paech predigt eine Rückkehr in die vorindustrielle Zeit mit massiv weniger Besitz, weniger Verkehr, weniger Energie, weniger Arbeitszeit und konsequenter Kreislaufwirtschaft. Er selbst besitzt nur zwei paar Hosen (eine schöne und eine abgewetzte) und ein paar Schuhe. Die Arbeiten seiner Studenten korrigiert er mit einem Bleistift. Er sieht sich als Realist und all jene, die mit einem «Green New Deal» die Welt retten wollen, als gefährliche Fantasten.

Der Professor sagt auch etwas, dem viele etwas abgewinnen können, die sonst seine Ideen für überzogen halten: Demokratien sind mit dem Klimawandel und der Umweltproblematik überfordert. Denn die zu ergreifenden notwendigen Massnahmen würden bedingen, dass die Bevölkerungsmehrheit ihren eigenen Lebensstil abwählt. Deshalb haben wir auch in der Schweiz noch immer mehr Schein als Sein: Am 20. Oktober wurden die Grünen massiv gestärkt, weil es nichts kostete. Doch sobald deren Ideen in Gesetze gegossen sind, werden sie es an der Urne schwer haben. Nur neun Monate vor der «Klimawahl» haben die Berner ein keineswegs revolutionäres kantonales Energiegesetz abgelehnt.

Das EU-Parlament hat diese Woche den Klimanotstand ausgerufen. Manchen Parlamentariern wird es jetzt mental vielleicht ein bisschen besser gehen. Doch sie selber, die Regierungen und Bevölkerungen ihrer Länder werden weiter zögern und auf ein Wunder warten.

So werden sich die Klimaberichte häufen, die seit 20 Jahren sagen, es sei fünf vor zwölf. In der Klimapolitik versuchen wir krampfhaft, die Uhr anzuhalten. Aber irgendwann wird uns der grosse Zeiger beiseiteschieben.

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