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«Wie ein Engel lag sie dort – im Wüstensand»

Dieses Geräusch. «Ich höre es heute noch.» Ein fürchterlicher, dumpfer Knall, als ihr Gesicht aufschlug. «Ein hässliches Krachen – ich werde es nie vergessen können.

Südostschweiz
28.01.15 - 01:00 Uhr
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Lisbeth Häusler sitzt an ihrem Esstisch in Eschenbach. Sie erzählt von einem Erlebnis, das ihr Leben für immer veränderte – und jenes ihrer Freundin, Esther Erb, auslöschte:

10. September 2014, zwischen 14.30 und 15 Uhr, mitten in der Wüste Tunesiens: Lisbeth Häusler blickt auf ihren rechten Unterarm. Er ist zerfetzt. Die Wunden geben den Blick auf Knochen und Sehnen frei. An den herunterhängenden Haut- und Muskelfetzen entlang rinnt Blut in den Wüstensand …

Im Arztbericht des Uni-Spitals Zürich wird später festgehalten: «Schwere Rissquetschwunden am Unterarm.» Zudem: Mehrere Rippen gebrochen und das Jochbein zertrümmert. Sowie Quetschungen und Prellungen.

Lisbeth Häusler schaut sich um. Sie erblickt ihre Freundin Esther Erb: «Wie ein Engel lag sie im Wüstensand. Ich wusste sofort, dass sie tot ist.»Realisiert hat sie das aber erst viel später.

Sie sucht ihr Handy, es muss in der kleinen Handtasche sein. Diese wurde beim Unfall aus dem Landrover herausgeschleudert, in dem die beiden Eschenbacherinnen sassen. Lisbeth Häusler findet die Tasche, holt das Handy heraus und wählt die Nummer ihres Sohnes Marco Häusler. Dass sie dort, im Niemandsland, Empfang hat, erstaunt sie erst viel später. Jetzt, Minuten, nachdem sich der Landrover überschlagen hat, funktioniert sie einfach.

Als ihr Sohn in der Heimat den Anfruf entgegennimmt, sagt sie: «Wir sind schwer verletzt, lass die Rega kommen.» Marco Häusler stutzt, versteht nicht, was er hört. Sie sagt: «Es ist kein Witz, es ist todernst.» Dann legt sie auf.

Marco Häusler ruft seine beiden Geschwister an, Patrick und Claudia. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Haben keine Ahnung, was geschehen ist. Geschweige denn wo. Sie rufen in ihrer Verzweiflung die Polizei an. Sie sollen das Schweizer Konsulat und den Reiseveranstalter anrufen. Zugleich wird die Schweizerische Rettungsflugwacht aufgeboten, die das Nötige einleitet und einen Rettungsflieger startklar macht.

Stunden vor dem Telefonat mit ihrem Sohn, im Hotel «Riu Palm Azur» auf der Halbinsel Djerba um 5.30 Uhr morgens. An diesem 10. September 2014 sind Lisbeth Häusler und Esther Erb früher als sonst aufgestanden. Um 6.40 Uhr werden sie abgeholt; sie haben einen Tagesausflug zur Oase Ksar Ghilane gebucht. Am Treffpunkt stehen mehrere Landrover bereit. Für tunesische Verhältnisse, das fällt den vielgereisten Eschenbacherinnen auf, sind es «erstaunlich moderne Wagen».

Gegen 12 Uhr mittags erreichen sie die Oase Ksar Ghilane – Mittagessen. «Wir sassen mit anderen Reisenden an einem Tisch in diesem Restaurant, das dort in der Wüste eigens für Touristen aus dem Boden gestampft wurde. So, wie man es halt kennt», sagt Häusler und zuckt mit den Schultern. «Es gab Couscous, wie immer.»

Die Landrover-Fahrer sitzen etwas abseits. Lisbeth Häusler ist sich sicher: «Die haben sich schon dort am Mittagstisch darüber unterhalten.» Worüber? Nun erzählt Lisbeth Häusler, wie es zum Unfall kam. Und mit «darüber» meint sie das «absolut verantwortungslose Verhalten» der Chauffeure.

Häusler und Erb setzen sich in den Landrover. Die Fahrt geht weiter. Ihr Auto fährt weit vorne in dem Konvoi. Plötzlich lässt der Fahrer den Landrover ausscheren und diesen ganz nach hinten fallen. Lisbeth Häusler sitzt vorne. Esther Erb döst. Sie sitzt hinten mit zwei Touristinnen aus Frankreich. Eine der beiden ist schwanger.

Lisbeth Häusler sieht Kamele durch die Wüste schreiten und ruft Esther Erb zu: «Schau mal, da drüben, die Kamele. Siehst du sie?» Von Esther Erb kommt nur ein leises «Hhhmm» zurück.

Der Chauffeur reiht den Wagen zuhinterst wieder im Konvoi ein. Plötzlich beginnt er einen Zickzackkurs zu fahren. Häusler: «Er fand das offenbar witzig, er grinste übers ganze Gesicht.» Und schon geschieht es: Der Wagen touchiert das Heck des vorausfahrenden und überschlägt sich. Sie erlebt alles mit, «bei vollem Bewusstsein».

Irgendwie kam Lisbeth Häusler aus dem Wagen heraus. «Natürlich ist der Fahrer schuld», sagt sie heute. Bei dem Unfall kam Esther Erb ums Leben. Ebenso die schwangere Französin. Lisbeth Häusler und die zweite Französin hatten Glück im Unglück. Der Fahrer entstieg dem Unfallwagen unverletzt.

Einige der Touristen aus den anderen Autos kümmerten sich um die Verletzten: «Einer nahm ein Hemd und wickelte es um meinen zerfetzten Arm.» Zwei Tage später, als die Rega Häusler in Gabès abholte, war das Hemd immer noch dran – festgeklebt vom Blut und Eiter. Lisbeth Häusler und die verletzte Französin wurden in einem der Landrover in Richtung Matmata gefahren, von dort im Krankenwagen ins Spital nach Gabès.

Im Spital waren die Helfer mit Häuslers schweren Verletzungen heillos überfordert: «Das Hemd am Arm haben sie dran gelassen und einen behelfsmässigen Verband drübergelegt.»

Die Pfleger hätten keine Handschuhe getragen, und Medikamente gab es nicht. «Jedenfalls habe ich keine erhalten.» Zwar habe man eine Leitung für die Infusion vorbereitet, so Häusler, aber gelegt wurde keine.

Auch ansonsten ist Häusler sichtlich schockiert, wie sie nun, fünf Monate nach dem Unfall, erzählt: Die Metallgestelle der Betten im Spital seien von Rost zerfressen gewesen. Leintücher gab es keine. «Ich lag auf einer zerrissenen Matratze. Eine Toilette gab es nicht, das war einfach ein Loch.»

Sie blieb eine Nacht im Spital in Gabès, ohne Schmerzmittel, der Verzweiflung nahe.

Zu Hause hatte Patrick Häusler in- zwischen einen Flug über Paris nach Tunesien organisieren können. Einen Tag nach dem Unfall, am Abend des 11. September, traf er bei seiner Mutter im Spital Gabès ein. Das Erste, was er sagte, war: «Hier kannst du nicht bleiben.» Er organisierte in einer Apotheke Schmerzmittel.

Inzwischen war der Schweizer Konsul bei Lisbeth und Patrick Häusler in Gabès eingetroffen. Die beiden fanden ein Hotelzimmer in der Nähe. «Im Rollstuhl schoben sie mich zum Auto und dann ins Hotel.» Vom Reiseunternehmen hörte sie nichts – und der Landrover-Fahrer «kümmerte sich keinen Deut um uns».

Neben den unerträglichen Schmerzen von der vereiterten Wunde, den gebrochenen Rippen und dem zertrümmerten Jochbein war etwas noch viel schlimmer: «Sie sagten mir im Spital, Esther sei schwer verletzt, aber sie lebe noch.» Natürlich habe sie sich Hoffnung gemacht. Sie habe zwar noch gesehen, wie die anderen Fahrer eine Decke über sie gelegt hätten. «Aber als ich hörte, sie sei noch am Leben, hoffte ich trotzdem, ich würde sie wiedersehen.»

Schon 48 Stunden nach dem Unfall trifft die Rega aus Zürich im 1600 Kilometer entfernten Gabès ein. Der Jet wartet am nächsten Flughafen in Sfax.

Die Rega-Ärzte holten Lisbeth Häusler mit einem Krankenwagen in Gabès ab. Als Erstes legten sie eine Infusion mit Schmerzmitteln und versorgten Häuslers Verletzungen. «Als ich die Ärzte der Rega sah», erzählt Lisbeth Häusler, «wusste ich, jetzt bin ich gerettet.» Sie sei den Helfern unendlich dankbar.

Am Abend des 12. September sind Lisbeth und Patrick Häusler zurück in der Schweiz. Noch in der Nacht wird Häusler im Uni-Spital in Zürich das erste Mal operiert. Um vier Uhr morgens holen die Ärzte mehrere Zentimeter grosse Glasscherben sowie Sand und Lacksplitter aus Häuslers Unterarm. Zwei Tage später bereits der zweite Eingriff, am Arm und am Jochbein.

Seit dem Unfall sind es nun fünf Monate her. Lisbeth Häusler musste sich in dieser Zeit etlichen weiteren Eingrif-fen unterziehen. Und ihre Leidensgeschichte geht weiter. Die rechte Hand kann sie nicht mehr richtig benutzen. Regelmässig muss sie zur Therapie.

Der seelische Schmerz jedoch wird sie ihr Leben lang verfolgen. Bei der Verarbeitung hilft ihr nicht zuletzt Esther Erbs Tochter Fabienne. Der entsetzliche Unfall hat die beiden noch mehr zusammengeschweisst. «Wir treffen uns regelmässig und reden», sagt Häusler. Und schaut auf das Bild ihrer Freundin Esther Erb, das während des ganzen Gesprächs vor ihr auf dem Tisch lag.

48

Stunden

dauert es, dann kommt für die Rettung: Als Erstes versorgen die Rega-Ärzte ihren zerfetzten Arm und fliegen sie zurück in die Schweiz.

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