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Die innere Schatztruhe auffüllen – in der jetzigen Situation besonders wichtig

Der aktuellen Krisensituation kann niemand aus dem Weg gehen. Wie wir aber damit umgehen sei trainierbar, sagt Psychologe und Resilienztrainer Gion Duno Simeon. Und erklärt, was Kaffeeduft mit der inneren Widerstandskraft zu tun hat.

Simone
Zwinggi
02.05.20 - 14:54 Uhr
Leben & Freizeit
Gion Duno Simeon beschäftigt sich seit seinen Jugendjahren mit der psychischen Resilienz.
Gion Duno Simeon beschäftigt sich seit seinen Jugendjahren mit der psychischen Resilienz.
OLIVIA AEBLI-ITEM

Als Kind sei er sehr ruhig und introvertiert gewesen, erzählt Gion Duno Simeon am Telefon, während die Worte des 75-Jährigen nur so hervorsprudeln. «Ich war das fünfte von neun Kindern. Obwohl ich immer alles sehr genau beobachtete, verstand ich oft nicht, was in meiner elfköpfigen Familie eigentlich genau vor sich ging.» Simeon wunderte sich damals über so viele verschiedene Charaktere innerhalb ein- und derselben Familie, und mit 15 war für ihn klar: «Ich will Psychologie studieren.» Dies, obwohl seine Familie ein Leben als katholischer Priester für ihn vorgesehen hatte. «In meinem Leben traf ich immer wieder Entscheidungen, die mein Umfeld nicht verstand oder von denen ich manchmal selbst nicht wusste, wohin sie mich eigentlich führen würden», sagt Simeon über sich. Das Thema der Resilienz, der psychischen Widerstandskraft, begleitet ihn sein Leben lang. Als Resilienztrainer möchte er den Menschen aufzeigen, wie sie besser mit Krisen und Widerständen umgehen können.

Der Zweifelmodus ist wie ein Sumpf

Die jetzige Krisensituation ist eine Herausforderung für alle. Menschen, die sich schon immer sehr um ihre Gesundheit gesorgt hätten, seien jetzt noch besorgter, glaubt Simeon. Und solche, die bislang stets davon überzeugt waren, dass auf der Welt immer alles rund laufe, seien vor den Kopf gestossen. «Ich beobachte, dass sich derzeit viele Menschen mit ihren Gedanken und Gefühlen im Zweifelmodus befinden. Es ist eine Art Sumpf, in dem sie sich bewegen. Sie zweifeln alles an, sind verunsichert. Nirgends gibt es eine trockene, sichere Stelle», so Simeon. Wer jetzt in diesem Zweifelmodus hängenbleibe, ihn nicht abschütteln könne, der laufe Gefahr, langsam in eine Depression zu schlittern. «Ein solcher Prozess dauert natürlich mehrere Jahre», erklärt der Psychologe, doch die jetzige Krisensituation könne ein Auslöser dafür sein.

Psychische Resilienz: alleine oder gemeinsam Lösungen suchen

«Das Leben ist ungewiss in diesen Tagen», sagt Simeon. «Aber wir können lernen, uns mit dieser Ungewissheit zu arrangieren. Wer dazu tendiert, immer die schlechten Dinge zu vergrössern, kann lernen, sich von dieser ‹negativen Lupe› loszulösen.» Wer lernen will, der Krise eine positive Perspektive abzugewinnen, der tut dies am besten im Kleinen, wie Simeon sagt. Der Fachpsychologe für Psychotherapie kommt damit auf das Resilienztraining zu sprechen. «Die psychische Resilienz ist die Fähigkeit, auch unter Belastung aktiv nach Lösungen zu suchen – entweder allein oder gemeinsam mit anderen.»

Simeon stellt ein paar Basisübungen des Resilienztrainings vor. Diese sind einfach im Alltag umzusetzen – «aber man muss dranbleiben!»:

Betrachten Sie als erstes dieses Bild. Was geschieht in Ihrem Innern? Können Sie etwas hören, riechen oder schmecken?

Kaffeeduft: eine intensive Geruchserfahrung.
Kaffeeduft: eine intensive Geruchserfahrung.
  • Kaffeeduft, Vogelgezwitscher, eine Umarmung: Indem wir den Sinneswahrnehmungen mehr Aufmerksamkeit schenken, können wir das Wohlsein in der eigenen Haut aufbauen. Wann haben Sie zuletzt etwas gerochen? Wann etwas geschmeckt, gefühlt, gehört, gesehen?
    Das können wir uns mehrmals täglich fragen und uns dabei an die Gerüche, den Geschmack, das Gehörte etc. erinnern.

     
  • Eine gute körperliche Basis ist wichtig für die psychische Gesundheit. Dazu gehören ausreichend Bewegung, eine gesunde, ausgewogene Ernährung und genügend Schlaf.
     
  • Die eigene Schatztruhe füllen: Mehrfach pro Tag ein gutes Gefühl bewusst wahrnehmen und besser geniessen.
     
  • Bewusst Danke sagen.
     
  • Einer unbekannten Person freundlich zulächeln. Damit zeigen wir, dass wir uns gegenseitig als Menschen anerkennen.
     
  • Drei Dinge stichwortartig festhalten, die gut getan haben: Sich abends fünf Minuten Zeit nehmen, um diese drei Dinge zu notieren. Und sich fragen: «Was habe ich zu diesen drei guten Dingen beigetragen»?

Es sei empirisch bestätigt, dass sich Menschen, die solche Übungen im Alltag regelmässig umsetzten, im Alltag glücklicher fühlten, so Simeon.

Nicht in der Hängematte

Die Forschung zeigt, dass Resilienz nicht angeboren, sondern erlernbar ist, wie Simeon erklärt. «Und um sie überhaupt trainieren zu können, muss man eine Stresssituation erleben. In der Hängematte lässt sich so etwas nicht üben» Auch mit Kindern lässt sich die Resilienz trainieren, denn auch sie erleben Stresssituationen. Weil Kinder aber in vielen Bereichen abhängig seien von Erwachsenen, müssten auch diese das Resilienztraining mit den Kindern in die Hand nehmen, so Simeon. Dazu hat er folgende Tipps und Hinweise:

  • Eine zuverlässige Beziehung zu den Eltern ist eine Voraussetzung dafür, dass die Resilienz gemeinsam gestärkt werden kann.
     
  • Die Eltern sind Vorbilder, auch in schwierigen Situationen. Wenn ein Elternteil frustriert oder traurig ist, kann er das dem Kind erklären, weshalb er sich so fühlt und aufzeigen, was sich jetzt dagegen tun lässt.
     
  • Dem Kind helfen, sich körperlich zu spüren. Das geschieht zum Beispiel beim Knuddeln und wenn die Eltern das Kind ernst nehmen, wenn es über körperliches Unwohlsein klagt.
     
  • Dem Kind die Wirkungen seines eigenen Handelns aufzeigen, vor allem die positiven Wirkungen.
     
  • Dem Kind helfen, seine eigenen körperlichen Bedürfnisse wie essen, schlafen etc. zu erkennen und zu decken.
     
  • Bei Problemen gemeinsam eine Lösung suchen. So lernt das Kind, selbst Lösungsstrategien zu entwickeln.

Die Mitte finden

Simeon hat seine Praxis für Psychotherapie in Chur vor fünf Jahren aufgegeben. «Mit 70 fand ich, es sei an der Zeit aufzuhören», erklärt er. Doch ganz losgelassen hat ihn seine berufliche Tätigkeit nicht. Resilienztrainings bietet er immer noch auf Wunsch an. Im Moment habe er aber keine Anfragen vorliegen. «Doch ich kann mir vorstellen, dass das Interesse dafür wieder steigt, sobald die Covid-19-Verordnungen des Bundes weiter gelockert werden», so Simeon.

Denn Simeon möchte dazu beitragen, dass möglichst viele Leute der jetzigen Situation etwas positives abgewinnen können, und ihnen so «auf die Hinterbeine» helfen. Damit das Lächeln zurückkehrt und wir lernen, auch mit ungewissen Situationen zurecht zu kommen.

Simone Zwinggi ist Redaktorin bei Zeitung und Online. Nach einem Sportstudium wendete sie sich dem Journalismus zu. Sie ist hauptberuflich Mutter, arbeitet in einem Teilzeitpensum bei der «Südostschweiz» und hält Anekdoten aus ihrem Familienleben in regelmässigen Abständen im Blog Breistift fest. Mehr Infos

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