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«Die Idee ist gut, aber die Umsetzung ist schlecht»

Seit Januar können bereits 17-Jährige erste Autofahrstunden nehmen. Bei den Bündner Fahrlehrerinnen und Fahrlerer macht sich schon jetzt Unmut breit.

04.07.21 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Die Nachfrage bei den Fahrschulen ist gestiegen und mit ihr die Probleme.
Die Nachfrage bei den Fahrschulen ist gestiegen und mit ihr die Probleme.
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Vor dem 18. Geburtstag bereits hinters Autosteuer und ganz legal durch die Strassen kurven? Seit Januar 2021 ist dies in der Schweiz möglich – und wird in der Region rege genutzt, wie diverse Fahrlehrer berichten: «Wir haben einen riesigen Ansturm von fahrwilligen Jugendlichen», erzählt Michael Bernet, Fahrlehrer aus dem Prättigau. Aktuell müssen neue Schüler fast einen Monat auf einen Termin bei ihm warten. Bei Fahrlehrer Tino Item aus Bonaduz zeigt sich ein ähnliches Bild: «Viele, die im Jahr 2003 geboren sind, wollen jetzt in die Fahrstunde kommen. Dazu kommen noch jene Schüler, die jetzt 17 sind. Und natürlich noch die Schüler für die Motorradausbildung», erzählt er. Beim Strassenverkehrsamt Graubünden in Chur bestätigt sich dies: «Die Option, bereits mit 17 Jahren Fahrstunden zu nehmen, wurde bisher oft genutzt», sagt Andrea Rothenberger, Chefexperte Führerprüfungen. Von den 1570 ausgestellten Lernfahrausweisen der Kategorie B (Auto) seien 670, also fast die Hälfte, an Personen unter 18 Jahren ausgestellt worden, schildert der stellvertretende Amtsleiter des Strassenverkehrsamts, Richard Peretti, die aktuelle Situation.

Bei diesen «Jüngstlenkern», die kurz nach oder sogar direkt am 18. Geburtstag ihre praktische Prüfung ablegen würden, unterscheide sich die Chance auf Erfolg nicht von anderen Fahrprüflingen. «Die Erfolgsquote liegt wie in den Vorjahren bei rund 65 Prozent», so Rothenberger. Mindestens eine Person habe tatsächlich exakt an ihrem 18. Geburtstag die praktische Prüfung absolviert, sagt er.

Neue Regel mit einem Haken

Aber nicht nur das Mindestalter für den Besitz eines Lernfahrausweises ist neu. Mit einher ging ein Gesetz, das den Junglenkkern zu mehr Fahrpraxis verhelfen soll, den lokalen Fahrlehrern aber stark auf den Magen schlägt. «Alle Personen, die unter 20 Jahre alt sind, müssen vor der praktischen Fahrprüfung mindestens ein Jahr lang den Lernfahrausweis besessen haben», erklärt Rolf Schindler, Fahrlehrer aus Chur. Bis anhin gab es diesbezüglich keine Untergrenze. Diese neue Mindestbesitzdauer stellt die Fahrschüler vor diverse Probleme, wie Schindler erklärt: «Wenn beispielsweise ein junger Maler-Lehrling vom Lehrmeister den Auftrag kriegt, den Fahrausweis zu machen, dauert es mehr als ein Jahr, bis er den Fahrausweis im Geschäft vorweisen kann, egal wie fleissig der Schüler die Fahrstunden besucht.» Aber auch für die Fahrlehrer sei diese Regel mit Herausforderungen verbunden, so Bernet: «Wir müssen viel mehr Zeit in die Organisation investieren. Wann darf welcher Fahrschüler an die Prüfung? Was ist, wenn der Fahrschüler ein paar Fahrstunden nimmt, dann viele Monate daheim mit den Eltern übt, nach einem Jahr kurz vor dem Prüfungstermin für den letzten Schliff in die Fahrschule kommt und wir dann feststellen, da hapert es noch bei ganz vielen Sachen?» 

Auf Euphorie folgt Ernüchterung

Die Motivation bei den 17-Jährigen sei gross. «Sie wollen sofort in die Fahrstunde kommen und lernen», erzählt Schindler. Nach diesem ersten Motivationsschub folge dann die Ernüchterung, weil sie ein Jahr auf die praktische Prüfung warten müssten. «Vorteilhaft ist diese Regel nicht», findet Schindler. Bei Fahrlehrer Item klingt es ähnlich: «Die Idee, den Jungen mehr Fahrpraxis zu verschaffen, bevor sie alleine auf die Strasse dürfen, ist super. Die Umsetzung dieser Idee hingegen ist schlecht.» Resignation auch im Prättigau, bei Bernet: «Ich sehe den Sinn in dieser Umsetzung nicht ganz. Aber das ist nun mal das Gesetz, damit müssen wir leben.» 

Die «Mödeli» werden zum Problem

Bereits vor der neuen Regelung ärgerten sich die Fahrlehrerinnen und Fahlerer besonders über eines: antrainierte «Mödeli». «Wenn eine Fahrschülerin zuerst zur Fahrschule geht und dort erste Fahrpraxis sammelt, ist das super. Es ist auch gut, wenn sie danach mehrere Monate daheim mit Mama oder Papa üben kann. Wenn sie sich dort aber gewisse «Mödeli», also unvorteilhafte oder falsche Dinge aneignet, dann wird es sehr schwierig, diese vor der Prüfung wieder abzugewöhnen. Es ist einfacher, etwas neu zu lernen, als etwas umzulernen», erklärt Fahrlehrer Schindler. Berufskollege Bernet stimmt zu: «Sobald jemand den Lernfahrausweis hat, sollte er die ersten Stunden bei einem Fahrlehrer nehmen, und nicht bei Papa. Nach einer Weile ist das Üben bei den Eltern aber wünschenswert.»

Dadurch, dass alle Lernfahrschüler unter 20 nun ein Jahr auf die praktische Prüfung warten müssen, steige das Risiko, sich falsche Verhaltensweisen anzueignen. Denn: «Die Schüler kommen ja nicht ein Jahr lang jede Woche in die Fahrstunde. Die kommen dann vielleicht alle zwei Monate. Oder vielleicht erst kurz vor dem Prüfungstermin, nachdem sie ein Jahr lang privat ‘rumgegurkt’» sind, und sich diverse Fehler angewöhnt haben», so Schindler.

Wird der Zweck durch die Mittel verfehlt?

Ob diese neue Regelung den Fahrschülern wirklich zu mehr Fahrpraxis verhilft, ist noch unklar. Dies lässt sich ein halbes Jahr nach Einführung schlicht noch nicht sagen. «Ich bin gespannt, ob die Unfallzahlen zurückgehen werden», sagt Bernet. Schindler zieht ein deutlicheres Fazit: «Viel Positives gibt es an dieser neuen Regel nicht.» Fahrlehrer Item fände eine angepasste Regel besser: «Ich würde eine Kombination vorziehen. Ja zum Lernfahrausweis für ein Jahr – aber mit Zwischenprüfungen. Ausserdem sollten die ersten fünf Fahrstunden beim Fahrlehrer absolviert werden müssen, danach erst mit den Eltern geübt werden. Zwischenbilanzen mit dem Fahrlehrer unter dem Jahr fände ich auch gut. Ein begleitetes Jahr quasi.»

Mara Schlumpf ist Redaktorin und Chefin vom Dienst bei «suedostschweiz.ch». Ursprünglich kommt sie aus dem Aargau, hat ihr Herz aber vor einigen Jahren an Chur verschenkt. Mehr Infos

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