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Eine Legende wird 100 Jahre alt

Auch wenn sie ursprünglich im Unterland hergestellt wurde, so darf man gewiss mit nicht wenig Stolz behaupten, dass sie sich nach über 100 Jahren so gut wie sonst nur wenige in unserem Kanton eingelebt hat. Aufgrund ihrer speziellen Merkmale passt sie so perfekt in unsere Bergwelt, dass man fast schon behaupten kann, ohne sie wäre unsere Tourismusdestination nicht mehr vollständig.

Davoser
Zeitung
26.12.21 - 17:00 Uhr
Leben & Freizeit
Aufnahme von 1921,  Ge 6/6 I 401
Aufnahme von 1921, Ge 6/6 I 401
zVg/Archiv RhB

Von Lucca Projer*

Sie besitzt eine bezaubernde Schönheit, hat einen gemütlichen, gutmütigen Charakter, kann jedoch – wenn man gerade einen schlechten Tag erwischt – manchmal auch ein wenig stur und störrisch sein. Mit etwas gutem Zureden befördert sie jedoch die schwersten Lasten und hat während ihrer Karriere unzählige Feriengäste und Baumaterial durch das Prättigau hinauf nach Davos befördert, ja sogar die Träger des Eisstadions wurden mit ihr hierher transportiert.

Die Rede ist von der legendären Krokodillokomotive der Rhätischen Bahn, die in der ganzen Welt bekannt ist. Seit einigen Jahren erfreut sie im Sommer tagtäglich sowohl die Herzen von Feriengästen als auch diejenigen der Einheimischen. Und wer als kleines Kind im richtigen Moment in ihr Gesicht geschaut hat, den verfolgt ihr wundervoller Anblick mit ihren glänzenden Messingschildern und Armaturen, zusammen mit der Faszination ihrer lebendigen und greifbaren Technik, ein ganzes Leben lang. Und so verwundert es auch nicht, dass es weit­herum kaum einen Eisenbahnfreund gibt, der nicht davon träumt, einmal in die Bündner Berge zu fahren und mit ihr eine Reise zu unternehmen.

Transport eines Trägers für das Eisstadion beim Wolfgang im Jahre 1979 mit der Lok 406.
Transport eines Trägers für das Eisstadion beim Wolfgang im Jahre 1979 mit der Lok 406.
zVg

Eine neue Technologie musste her

Trotz all der schönen Emotionen, die mit diesen Lokomotiven verbunden sind, sah die Zeit ihrer Entstehung weit düsterer aus als heute. Rundherum in Europa ­tobte der erste Weltkrieg, und die RhB fuhr weitestgehend noch mit Dampf­lokomotiven herum. Der Preis für die aus dem Ausland zu importierende Kohle hatte sich in den Jahren vervielfacht. Und so war die RhB gezwungen, ihr Angebot zu reduzieren, und die Feuerung ihrer ­Lokomotiven von Kohle auf einheimisches Holz umzustellen. Dies war in­sofern problematisch, als dass die Rauchgase, denen das Personal in den Tunnels ausgesetzt war, noch viel aggressiver wurden. Die erforderliche Holzmenge war im Vergleich zur Kohle viel grösser und musste mühevoll von Hand bereitgestellt werden.

Da es im Engadin bereits vor dem Krieg einen Versuchsbetrieb mit elektrischen Lokomotiven von St.Moritz nach Scuol gab, fasste man schnell den Entschluss, auch das steile Stück der Albulalinie von Filisur nach Bever mit einer Fahrleitung auszurüsten. Da der Verkehr zurück­gegangen war, reichte die Elektrizitätsmenge von dem Unterwerk in Bever gut auch noch für diesen Abschnitt. Die im Engadin vorhandenen 15 Loks konnten vorläufig auch zusätzlich noch den Betrieb nach Filisur bewältigen. Die kleine Version davon war jedoch für die steile Steigung am Albula viel zu schwach.

Wollte man jedoch das elektrische Netz noch weiter ausdehnen, die Fortsetzung nach Thusis und Davos-Klosters-Landquart erfolgte umgehend, kam man um neue Lokomotiven und zusätzliche Bahnstromkraftwerke in Küblis und Sils nicht herum. So wurde bei der schweizerischen Industrie eine erste Serie von sechs neuartigen Loks bestellt. Im Vergleich zu den Maschinen aus dem Engadin, die noch einen gewissen Versuchscharakter hatten und deshalb in sechs unterschiedlichen Versionen vorhanden waren, strebte man hier aus Unterhaltsgründen eine einheitliche Ausführung an. Die ersten Maschinen wurden 1921 ausgeliefert und waren so erfolgreich, dass der Bestand bis 1929 auf 15 Lokomotiven anwuchs. Ein Mythos war geboren.

Vom Lokführer ist Handwerk gefragt

Die Lokomotiven waren für die damalige Zeit ausserordentlich stark und be­fördern auf der Albulalinie eine Last von 200 Tonnen. Vorher benötigte man für so einen Zug zwei grosse Dampflokomotiven. Der Lokführer musste seine Arbeit jedoch, trotz der neuen Technik, weiterhin im Stehen ausführen. Erhascht man einen Blick in den Führerstand, sticht einem ein grosses Rad ins Auge, das schon fast an das Steuer eines Schiffes erinnert. Mit diesem kann der Lokführer die Zugkraft und Geschwindigkeit regeln. Dies geschieht über unterschiedliche Spannungen, die vom Trafo, der im Mittelteil platziert ist, erzeugt werden. Über dieses Rad treibt der Fahrer über diverse Ketten und Wellen einen riesigen Schalter an, der die richtige Spannung vom Trafo an die Fahrmotoren weiterleitet. Die Betätigung von diesem stellt in der heutigen automatisierten Welt einen grossen Kraftakt dar, und so erzählte mal ein pensionierter Lokführer: «Je älter die Maschine war, desto mehr wurde das Fahren zum Handwerk».

Die beiden Motoren sind in den Vorbauten platziert und treiben über ein Getriebe und die gut sichtbaren Triebstangen, welche den Loks ihre charakteristische Geräuschkulisse spendieren, direkt die Räder an. Durch die Positionierung des Rahmens auf der Aussenseite der Räder war es möglich, die Motorkonstruktion einer grossen SBB-Lokomotive für die Gotthardbahn zu übernehmen. Praktisch identische Motoren hatten sich auch im Krokodil der österreichischen Bundesbahnen und in einer bayrischen Schnellzuglokomotive bewährt.

Ausbau eines Motors in der Hauptwerkstätte in Landquart in den 30er-Jahren. Durch die Konstruktion mit den beiden Vorbauten war ein Motor innert weniger Stunden ausgebaut.
Ausbau eines Motors in der Hauptwerkstätte in Landquart in den 30er-Jahren. Durch die Konstruktion mit den beiden Vorbauten war ein Motor innert weniger Stunden ausgebaut.
zVg/Archiv RhB

Ideales Einsatzgebiet

Die Bezeichnung «Krokodillokomotive» erhielten die Fahrzeuge von Eisenbahnfreunden aufgrund ihrer gelenkigen ­Bauweise, den beiden Vorbauten, und der technischen Verwandschaft zu ihren grösseren – und zudem auch noch grün lackierten– Schwestern der SBB. Die Bauweise mit zwei beweglichen Vorbauten, die über einen Mittelteil gelenkig miteinander verbunden waren, wurde bereits 1909 von einem Engländer namens ­Garratt für eine Dampflokomotive an­gewendet. Dabei dienten auch dort die Vorbauten als Antriebsteile, die gleichzeitig den Vorrat für Kohle und Wasser trugen, und der Mittelteil bestand aus Dampfkessel und Führerstand.

Nach ihrer Ablieferung trugen die Maschinen die Hauptlast des schweren Verkehrs nach Davos und ins Engadin. So oblag ihnen auch die Beförderung des berühmten Glacier Express, und während der 50er- und 60er-Jahre einen Teil der Transporte für die vielen Kraftwerksbauten im Kanton. Auch die Ablieferung der Ge 4/4I ab 1947, welche übrigens diesen Sommer auch oft vor dem Nostalgiezug zu sehen war, konnte die Krokodile nicht vollständig aus den Schnellzugdiensten verdrängen. Dies war auch darin begündet, dass diese neuartige Konstruktion, obwohl sie viel schneller war als die Krokodile mit ihren 55 km/h Höchstgeschwindigkeit, deutlich weniger Zugkraft besass, was auf der steilen Strecke nach Davos sehr ausschlaggebend gewesen ist.

So kam es, dass die Krokodile aufgrund des stetig gestiegenen Verkehrsvolumens über 60 Jahre lang in Diensten der RhB standen. Erst Mitte der 80er-Jahre erfolgte die grosse Ausmusterungswelle.

Die Strecke von Davos nach Filisur zählte bis dahin zu einem der letzten Einsatzgebiete im Personenverkehr. Die ver­bliebenen Exemplare bespannten noch bis Mitte der 2000er-Jahre vereinzelt ­Güterzüge, wenn der Lokomotivbestand gerade wieder einmal knapp wurde. Ab 2008 gehörten dann noch zwei Loks zum Bestand der RhB, welche zum Glück auch heute noch fahrfähig sind.

Nach erfolgter Grossrevision ist die Lok 415 nächsten Sommer wieder für Einsätze in der Zügenschlucht bereit. Aus Anlass des 100 jährigen Bestehens der Konstruktion wurde sie mit einem glitzernden Speziallack versehen, der allerdings nur für eine limitierte Dauer zu ihrem Erscheinungsbild gehören wird.
Nach erfolgter Grossrevision ist die Lok 415 nächsten Sommer wieder für Einsätze in der Zügenschlucht bereit. Aus Anlass des 100 jährigen Bestehens der Konstruktion wurde sie mit einem glitzernden Speziallack versehen, der allerdings nur für eine limitierte Dauer zu ihrem Erscheinungsbild gehören wird.
L. Projer

Umdenken fand statt

Lange Zeit sah es so aus, als müssten ­diese ihre Zukunft vorwiegend hinter verschlossenen Depottoren verbringen und dürften diese nur noch für vereinzelte Sonder- und Hochzeitsfahrten verlassen. Für einen grossräumigeren Einsatz schien es in einer dem Fortschritt verpflichteten Bahngesellschaft keinen Platz mehr zu geben. Glücklicherweise hat sich dies in den letzten Jahren sehr stark geändert, und die Tatsache, dass die Bahn bei uns nicht nur für den Transport von A nach B gebraucht wird, sondern eine wichtige Touristenattraktion ist, rückte nicht zuletzt dank der Stimme von unzähligen Eisenbahnfreunden sowohl bei den Touristikern als auch bei den Einsatzverantwortlichen der RhB immer weiter in den Vordergrund. So kam es dazu, dass die Bahn die Loks seit 2018 wieder regelmässig – wie zu guten, alten Zeiten – als normale Personenzüge zwischen Davos und Filisur einsetzt. Dieses Phänomen ist weitherum einzigartig, und es darf den Verantwortlichen dafür ein grosses Lob ausgesprochen werden. Es bleibt zu hoffen, dass Touristiker und die Politik auch in Zukunft hinter solchen Einsätzen stehen werden.

Denn Fakt ist: Diese Fahrzeuge passen mit ihren 1200 Pferdestärken besser in unsere Bergwelt als mancher noch so moderne Sportwagen und sind ein ­wesentliches Alleinstellungsmerkmalfür unsere Region.

Und wer weiss, vielleicht war es doch der gebürtige Churer Jakob Buchli, welcher um 1920 bei der Brown Boveri als Oberingenieur arbeitete, der seine «Bündner Gene» ein wenig in diesen Lokomotivtyp einfliessen liess. Genau kann dies heute nicht mehr bestimmt werden, denn auch um Krokodile ranken sich einige Sagen und Mythen.

* Lucca Projer ist seit seiner Kindheit Eisenbahn-Fan und verfasste exklusivfür die DZ diesen Artikel.

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