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Willkommen, liebe Radsportfreunde

Johannes
Kaufmann
22.10.20 - 09:58 Uhr

Im Blog «Anpfiff» berichten Journalistinnen und Journalisten jede zweite Woche aus der Südostschweiz-Sportredaktion.

Johannes Kaufmann* über das verrückte Radsportjahr 2020

Na, ist denn heute schon Weihnachten? Pausenlos sprach Franz Beckenbauer in einem seiner unzähligen TV-Werbespots einst zu jeder Jahreszeit diese Worte. Weit vor den aufziehenden Schatten rund um die Vergabe der Fussball-Weltmeisterschaft an Deutschland respektive seiner bis heute nie aufgeklärten Rolle inmitten des hoffnungslos verklärten «Sommermärchens», schwebte er als viel zitierte Lichtgestalt über den Dingen. Heute ist es ruhig geworden um den Fussball-Kaiser. Ob er noch weiss, wann Weihnachten ist? Mildernde Umstände gibt es da in der Tat. Die Dinge sind komplex geworden. Der Sportkalender war einst ein verlässlicher Begleiter des Jahres. Mein passivsportliches Kalenderjahr dauerte vom in jüngeren Jahren oft mittelprächtig verkatert verfolgten Skispringen an Neujahr bis zum Final des Spengler Cups an Silvester. Bloss das eine oder andere alpine Skirennen musste witterungsbedingt verlegt werden.

Das alles ist fast schon surreale Nostalgie. Als besonders verwirrend präsentierte sich im Corona- und Krisenjahr 2020 der Radsportkalender. Willkommen liebe Radsportfreunde, begrüsste einst in den Achtzigerjahren der unvergessene TV-Kommentator Hans Jucker das Volk. Der ärgerte sich zwar kolossal über die «huerää Ruderer» und weitere Störfaktoren. Die Frühjahrsklassiker erlebte der zu früh verstorbene Mann mit der sonoren Stimme jedoch wirklich noch im Frühjahr. Und seinen Ärger über die wieder einmal dilettantische Übertragung der Tour de France, des Filetstücks im Kalender, wurde Jucker Jahr für Jahr im Juli los.

Das aktuelle Radsportjahr kann keinerlei Orientierung in diffusen Zeiten leisten. Die Saison der sogenannten Monumente, der fünf grössten Eintagesklassiker, reicht in normalen Zeiten von Mailand – Sanremo im März zum Saisonauftakt bis zum finalen Rendez-vous der fallenden Blätter, der Lombardei-Rundfahrt im Oktober. Corona duldete keinerlei fallende Blätter. Die italienischen Klassiker mussten im August innerhalb einer Woche durchgepaukt werden. Kurze Zeit später begann die Tour de France. Es war eine logistische Meisterleistung und nichtsdestotrotz ein kleines Sport-Wunder, dass die Exponenten der grossen Schlaufe inmitten rapide ansteigender Corona-Fallzahlen im Land, mehr oder minder unversehrt drei Wochen später in Paris eintrafen. Es war auch ein Akt der Befreiung. Während des Spektakels Tour schafft der Radsport die dreiwöchige Metamorphose vom Rand- zum Massensport. Mit immensem Klumpenrisiko. 70 Prozent des Werbekuchens des Jahres mache die Tour aus, errechneten Experten.

Die kurioseste Saison der Geschichte läuft und läuft. Der Giro in Italien respektive die Vuelta in Spanien überkreuzen sich in diesen Tagen. Das Mammutprogramm – mit Corona-Tests an den Ruhetagen der Grand Tours als kuriosem zusätzlichen Spannungsmoment – muss definitiv abgespult werden. Bloss der «Super-Sonntag» fällt aus. Am nächsten Sonntag hätten sich nach Programm Giro, Vuelta und die Königin der Klassiker, Paris – Roubaix, direkt konkurrenziert. Das Corona-Risikogebiet Nordfrankreich verhindert indes die «Hölle des Nordens». Schade. Auf den Ritt über die Pavés allenfalls bei Wind, Kälte und Regen hätte ich mich echt gefreut. Im April gab es dies in den vergangenen Jahren nie mehr. Na dann, auf Wiedersehen liebe Radsportfreunde. Und Weihnachten findet voraussichtlich am üblichen Datum statt. 

*Johannes Kaufmann ist Sportredaktor.

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