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Bittersüsse Nostalgie

Single
Böckin
20.05.20 - 16:30 Uhr
PIXABAY

Bau ein Haus, pflanz einen Baum, mach ein Kind – dass dieser Lebensentwurf nicht zwangsläufig auf jeden Menschen zugeschnitten ist, beweisen die anonymen Liebesbriefe ans wunderschöne, elende Single-Leben. Ein Hoch auf Selbstgespräche, Dosen-Ravioli und Liebeleien.

Spoilerwarnung: Die folgenden Zeilen könnten eine deprimierende Wirkung haben. Solltet Ihr Euch also gerade strahlend an den sonnigen Seiten des Lebens erfreuen, setzt Euch ein Lesezeichen und kehrt hierher zurück, sobald Ihr genauso von Euren Gefühlen heimgesucht werdet wie ich.

Mittlerweile sind um die 60 Tage seit den ersten «#stayhome-Corona-Massnahmen» vergangen.

Meine Wohnung ist mittlerweile so sauber wie seit dem Einzug nicht mehr und entrümpelt habe ich einen Grossteil auch bereits. Auf dem Desktop meines Laptops herrscht allerdings lange noch dasselbe Chaos wie vor der Krise. Keine bessere Zeit als jetzt, um diesem ein Ende zu setzen. Eine sensationell dumme Idee.

Ihr müsst wissen, ich habe diesen Laptop seit bald zehn Jahren und erstaunlicherweise bietet sein Speicher auch Platz für Erinnerungen von zehn Jahren. Erinnerungen, die im digitalen Chaos gerne vergessen geraten und von denen ich nicht mal mehr wusste, dass ich sie besitze.

Zu Beginn geht alles ganz leicht von der Hand. Hin und wieder ergreift mich ein wenig Nostalgie, wenn ich über ein altes Dokument stolpere, das mich an bestimmte Szenarien erinnert.

Das Problem manifestiert sich erst, als ich zu den Fotografien gelange.

Normalerweise lösche ich alles, was mich an eine bestimmte Person erinnert, sobald die Beziehung zu Bruch geht. Nicht, weil ich die Person sofort vergessen will, sondern, um genau solche Begegnungen zu vermeiden.

Er strahlt mich von meinem Bildschirm aus an. Mich von früher auf dem Bild - und mich jetzt, völlig versteinert auf dem Sofa. Das Bild entstand am Abend, als wir zum ersten Mal so richtig gesprochen hatten. Dieser Moment der innigen Vertrautheit, den wir innerhalb von wenigen Minuten aufgebaut hatten, wurde von einer Person mit der Kamera eingefangen. Wir sehen darauf wie ein altes, glückliches Ehepaar aus. Ich war schon damals überrascht, wie viel Emotionen ein Bild transportieren konnte.

Meine Kehle ist staubtrocken und ich kann bloss wie gelähmt den Bildschirm anstarren, während ich hilflos über mich ergehen lassen muss, dass eine Welle von bittersüsser Nostalgie über mir zusammenschlägt.

Selbst nachdem der Bildschirm schwarz wird, starre ich noch einige Minuten völlig perplex meine Reflektion darin an. Ich bin in keinster Weise darauf vorbereitet, noch so viele Gefühle nach so langer Zeit für ihn zu haben. Doch einige Menschen machen das mit dir. Sie bleiben für immer, auf die eine oder andere Art.

Die Gefühle haben sich allerdings über die Jahre verändert. Ich hege keinen Groll mehr dafür, dass er mein Herz gebrochen hat und ich vermisse ihn nicht mehr. Ich vermisse nicht einmal mehr das, was wir waren, denn gut tat es keinem von uns. Einzig die Intensität auf dem Foto schnürt meine Brust ein wenig enger. Ich habe es übrigens nicht übers Herz gebracht, es zu löschen.

Einige Tage später meldet sich eine ehemalige Arbeitskollegin. Er hat jetzt ein Kind und das freut mich wirklich für ihn! Es zeigt mir aber auch, dass es richtig war, dass es geendet hat. Wir wollten schon immer verschiedene Dinge, standen schon immer an verschiedenen Punkten in unseren Leben.

Wahrscheinlich ist das wohl die einzige «virtuelle Begegnung» und Entrümpelungsaktion, die mich während der Pandemie wirklich weitergebracht hat. Ich kann endlich loslassen und abschliessen. So richtig, dieses Mal.

Sollte euer Herz in diesen Tagen also auch etwas schwerer sein, denkt einfach daran: Es braucht Zeit und es ist okay, wenn es Jahre dauert.

In der Zwischenzeit: Geniesst den Frühling, seid vorsichtig mit den Lockerungen und liebt Euch selbst ein bisschen!

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