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In Italien gibt es neben der«capitana» eine zweite Heldin

Andrea
Masüger
13.07.19 - 04:30 Uhr
PIXABAY
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In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

«Wann kommt der Tag, an dem Salvini vor Gericht gestellt wird?» twitterte der Bündner Regierungsrat Peter Peyer Ende Juni. Die halbe Schweiz wunderte sich darauf, dass ein kantonaler Justizminister es wagt, dem italienischen Vizepremier im Fall der deutschen «capitana» Carola Rackete den Spiegel vorzuhalten. Rechtsprofessoren meinten, dies gehe nicht. Wenn Donald Trump vor einem Staatsbesuch den Londoner Bürgermeister als Depp bezeichnet, ist dies aber ganz normal, man hat sich ja daran gewöhnt. Aber Schweizer Politiker, auch solche der Exekutive, sollen Eunuchen bleiben.

Dennoch hat die regierungs-rätliche Twitterbotschaft einen Schönheitsfehler. Salvini kann nicht vor Gericht gestellt werden, denn seine Weigerung, die 40 Flüchtlinge auf der «Sea Watch 3» in Lampedusa an Land zu lassen, ist rechtlich abgesichert. Sie geht unter anderem auf das sogenannte Sicherheitsdekret zurück, dass er höchstselber erfunden hat und das rigorose Regeln für Migranten enthält. Es scheint also alles rechtsstaatlich in Ordnung. Und deswegen ist auch hierzulande ein Streit darüber entbrannt, ob die junge Kapitänin richtig oder falsch gehandelt hat. In einem viel zitierten Kommentar in der NZZ war die Rede davon, dass sie schlicht und einfach italienische Gesetze missachtet hat, die von Regierung und Parlament erlassen worden waren. Rackete hat sich also in krimineller Weise über den Rechtsstaat hinweggesetzt.

Rein legalistisch kann man so argumentieren. Doch hier tut sich ein gefährlicher Abgrund auf. Salvinis Dekret ist ein Musterbeispiel einer extremen Gesetzgebung, die man sonst nur von totalitären Regimes kennt. Regelungen, die den Menschenrechten widersprechen und möglicherweise sogar völkerrechtswidrig sind, werden durch ihre Gesetzeskraft legitimiert und unantastbar. Dennoch wäre es während des Kalten Kriegs niemandem im Westen in den Sinn gekommen, in der DDR oder in anderen Oststaaten erlassene Knüppelgesetze als legitime Rechtsbasis anzuerkennen.

Doch heute gilt sogar in der Schweiz ein menschenver-achtendes Gesetz eines Nach-barstaats als etwas ganz Normales, sobald es von einer Behörde erlassen wurde. So sehr haben sich bei uns in der Asyl- und Migrationsfrage die Grenzen verschoben. Einst Undenkbares nehmen wir mit einem Achselzucken und mit dem Verweis auf ein demokratiepolitisch einwandfreies Verfahren zur Kenntnis.

Wenn heute Carola Rackete als Heldin bezeichnet wird, so gibt es in Italien selbst noch eine zweite Heldin in diesem Fall. Es ist die sizilianische Richterin Alessandra Vella, welche die Freilassung der «capitana» anordnete. Diese habe nach der Pflicht des Seerechts gehandelt, Menschen in Not zu retten, schrieb sie in ihrem Urteil. Nach Libyen oder Tunesien habe sie die Flüchtlinge nicht bringen können, weil ihnen dort Menschenrechtsverletzungen drohten. Die ganze Aktion sei also «allein aus Pflichtgefühl» erfolgt. Salvinis durchsichtigen Versuch, Rackete nicht nur wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung, sondern auch wegen eines «kriegerischen Akts» dranzukriegen, parierte die Richterin mit der lakonischen Feststellung, das vom Flüchtlingsschiff leicht touchierte Boot der Finanzpolizei sei kein Kriegsschiff.

Die Argumentation der Richterin zeigt, dass Salvinis Dekret auf einem wackligen Fundament steht. Viele meinen denn auch, es würde einer Überprüfung durch das Verfassungs-gericht nicht standhalten. Das italienische System ist also in der Lage, sich selber zu korrigieren. Dies nicht nur durch die Justiz, sondern auch in Form zahlreicher Behördenmitglieder und Bürger, welche der Deutschen zu Hilfe eilten und eine Art Widerstandsrecht in Anspruch nehmen, so, wie es Bürgermeister grösserer italienischer Städte in der Migrationsfrage schon lange tun.

Seien wir froh, dass Bella Italia noch auf diese Weise funktioniert. Und dass wir nicht weiter an Kalten Krieg und Diktatur denken müssen, wenn wir bei Chiasso über die Grenze fahren.

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