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Die neuen Konzentrationslageram Rande Europas

Andrea
Masüger
20.07.19 - 04:30 Uhr
PIXABAY
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In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Vor einem Jahr lernte man den deutschen Innenminister Horst Seehofer als Asyl-Hard-liner kennen, der mit seiner kompromisslosen Haltung fast die Koalition gesprengt hätte. Nun schreibt Seehofer seinem italienischen Kollegen Salvini, es sei unmenschlich, Flücht-linge wochenlang auf See treiben zu lassen. Haben sich die Perspektiven derart verschoben und verschlimmert?

Was derzeit im Mittelmeer passiert und in Geschichten um die deutsche Kapitänin Carola Rackete ihren Niederschlag in den Medien findet, ist dramatischer, als es von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Es stehen nicht mehr jene Hoffnungslosen im Mittelpunkt, die im Meer ertrinken, sondern jene, die ihnen zu Hilfe eilen. Das Retten von Menschenleben ist zu einem kriminellen Delikt geworden. Ist eine solche Perversion noch zu steigern? Diese Debatte zeigt, wie abgehoben, wie vollkommen weltfremd sich die Flüchtlingsproblematik derzeit präsentiert.

Das grosse, stolze Europa der Freiheit und der Menschenrechte widmet sich zwarmit Inbrunst und immensem Aufwand der Wahl seines Kommissionspräsidiums, aber es geht nonchalant über die Tatsache hinweg, dass an seinem Rand richtiggehende Konzentrationslager existieren. Die Flüchtlingscamps in Libyen sind Todeslager, in denen Menschen aus allen Himmelsrichtungen eingesperrt, misshandelt, vergewaltigt, versklavt und getötet werden. Doch sie nützen Europa: Die Flüchtlingszahlen haben sich seit dem Jahr 2016 auf einen Fünftel reduziert. Italien verhandelt gar mit den dortigen lokalen Milizen und der libyschen Küstenwache, damit diese die Schraube noch weiter anziehen. Die zynische Bilanz: Je höher die Repression vor den Grenzen, desto weniger Migranten in Europa.

Doch Salvini ist nicht alleine schuld an der Misere. Im Unterschied zu seinen früheren Kollegen wurstelt er sich nicht mehr durch, sondern betreibt Extrempolitik, um Italien abzuschotten. Dadurch wird sichtbar, wie sehr Europa das Stiefelland in den letzten Jahren im Stich gelassen hat. Nach Erlass der Dublin-Regeln, die Italien als Erstaufnahmeland fast in jedem Fall zwingen, Migranten bei sich aufzunehmen, konnten sich die Minister der Nachbarländer bequem zurücklehnen – die Flüchtlingsmisere konzentrierte sich vor allem auf Italien. Salvini will nun einfach den gordischen Knoten durchhauen. Nach seiner bekannten Art, notabene.

Immerhin haben Deutschland, Frankreich, Portugal und Luxemburg immer wieder auf freiwilliger Basis Flüchtlinge aus dem Mittelmeer aufgenommen. Es fehlt auch nicht an Versuchen, die Dublin-Regeln zu reformieren und die unsinnige Regelung der Erstaufnahme zu korrigieren. Dies würde aber Solidarität unter den Staaten bedingen, was die Blockierer aus Ungarn, Polen, Tschechien, der Slowakei und neuerdings auch Österreich regelmässig vereiteln. Erst vor zwei Tagen ist ein Treffen der europäischen Innenminister zum Thema Seenotrettung an mangelndem Interesse der Länder gescheitert. Deutschland und Frankreich versuchten vergeblich, Kompromisse zu finden. Doch die anderen Länder halten sich weiterhin Augen und Ohren zu.

Obwohl der Migrationsdruck durch diese Entwicklung geringer geworden ist, wird die Flüchtlingsfrage für Europa existenziell werden, und zwar in moralischer Hinsicht. Wenn die EU das Problem nur oberflächlich und unter Inkaufnahme schlimmster Menschenrechtsverletzungen lösen kann, gibt es schliesslich mit der Preisgabe seiner einst heiligen Werte auch sich selber auf. Dies dürfte über kurz oder lang eine gröbere Krise auslösen, weil ein Land wie Deutschland dies nicht hinnehmen will und nicht hinnehmen kann.

Es gibt Ideen für eine nachhaltigere Lösung der Flüchtlingsfrage mit Hilfe vor Ort in den Ursprungsländern und – ja, mit mehr Geld. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in den letzten Tagen angetönt, dass sie das Problem anpacken will. Wenn es ihr gelingt, wird sie Europa von Schmach und Schande befreien.

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