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Die Freiheit ist nicht nur eine Banane

Andrea
Masüger
09.11.19 - 04:30 Uhr

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

«Wir werden wohl erst später begreifen, dass wir in diesen Novembertagen an einem Wendepunkt der Geschichte angelangt sind.» Diesen Satz habe ich als junger stellvertretender Chefredaktor vor 30 Jahren in die «Bündner Zeitung» geschrieben. Die DDR hatte soeben abgedankt.

Zwei Nächte zuvor war ich vor dem Fernseher in Chur gesessen und traute – wie es der ganzen übrigen Welt auch ging – meinen Augen nicht. Ein Herr Schabowski sprach wirres Zeugs und die Menschen zerdepperten gerade die Berliner Mauer. Dieses Symbol der Trennung zwischen Ost und West, das man für die Ewigkeit errichtet wähnte.

Und: Haben wir es drei Jahrzehnte später begriffen? Wohl noch nicht. Oberflächlich gesehen ist heute bloss die grosse Ernüchterung eingekehrt. Obwohl es gemäss den Statistiken den Ostdeutschen wirtschaftlich gar nicht so übel geht, fühlen sie sich abgehängt und missverstanden. Ein kollektiver Minderwertigkeitskomplex hat sich breitgemacht. Die BRD und die ehemalige DDR sind nicht zusammengewachsen, sie werden bloss von viel Geld und Politikerreden notdürftig zusammengehalten. Auf diesem seltsamen, indifferenten Boden kann eine AfD blühen, welche zur Gefahr für die gesamte Bundesrepublik wird. Manche möchten das Rad der Zeit zurückdrehen, hüben wie drüben.

Man hatte es sich anders vorgestellt. Wir erinnern uns daran, wie das erste Ziel derjenigen, die über die Grenze durften, den Bananen galt. Man stürmte Supermärkte und Gemüseläden, man wollte endlich diese Frucht essen, die bisher dem kapitalistischen System vorbehalten war. Dies wurde zum Bananen-Irrtum der deutschen Einigung. In den Köpfen herrschte bloss der wirtschaftliche Aspekt, der Wohlstandsgedanke: Wir möchten es auch so kommod haben wie die im Westen.

Doch dieser Ausgleich der Systeme war zu kurz gedacht. Ging es nur um gleich lange Spiesse zwischen Ost und West? Es war doch zuvor mit der schleichenden Abkehr der sowjetischen Satellitenstaaten schon Ungeheuerliches passiert und es sollte danach in diesem Stil weitergehen: Knapp zwei Monate nach der Berliner Mauer fiel der rumänische Diktator Ceausescu und zwei Jahre danach die komplette UdSSR. Es war eine Epochenwende. Aber eben nicht nur eine ökonomische, weil sich die Kommunisten verkalkuliert hatten. Es war auch eine Wende der Freiheit.

Damals schien das klarer als heute. Im Kommentar vom November 1989 verglich ich den Mauerfall mit dem Sturm der Bastille 200 Jahre früher: In beiden Fällen bedeute die Schleifung von steinernen Unterdrückungssymbolen durch das Volk einer geknechteten Nation den Durchbruch von Aufklärung und Freiheit; zwei Errungenschaften, die 1989 nun auch für den Osten gälten.

Daher stellt sich auch die Frage: Sind Aufklärung und Freiheit universelle menschliche Güter, die sich im Laufe der Geschichte zwangsläufig durchsetzen werden? Der bekannte amerikanische Historiker Niall Ferguson ist überzeugt, dass auch die letzte Hochburg einer Spielart des Kommunismus, die Volksrepublik China, bereits angezählt ist. In seiner NZZ-Kolumne vom vergangenen Dienstag schrieb er, dass China in den nächsten zehn bis 20 Jahren zusammenbrechen werde wie einst die Sowjetunion. Und er sieht dafür nicht nur ökonomische Gründe.

Dann wären auch dort im fernen China die Gedanken frei. So, wie sie es 1989 in der DDR geworden sind. Und das ist mehr wert als eine Banane, als eine hypothetische wirtschaftliche Gleichheit. Vielleicht braucht es nochmals 30 Jahre, bis man dies auch in Deutschland begriffen hat.

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