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Ein Platz in München und eine Rede im Senat zu Rom

Andrea
Masüger
16.11.19 - 04:30 Uhr
PIXABAY
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In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Das offizielle Deutschland ist verzweifelt bemüht, alle Arten von Antisemitismus und Rechtsextremismus auszutilgen. Am Mittwoch wurde der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestags abgewählt. Alle Parteien, ausgenommen die AfD selber, wollten diesen ewig zündelnden, nahe an der Hassrede operierenden Typen nicht mehr in diesem prestigeträchtigen Amt sehen. Die Abwahl war der verzweifelte Versuch, in einer aufgeladenen Stimmung wieder eine Art Normalität herzustellen.

Wer in München durch die schöne Brienner Strasse schlendert, steht nach dem berühmten Café «Luitpold» plötzlich vor einem Mahnmal, auf dem eine ewige Flamme brennt. Hier ist der «Platz der Opfer des Nationalsozialismus», der an Hitlers blutiges Regime erinnern soll. Ganz in der Nähe stand einst das Wittelsbacher Palais, das Stadtschloss der Kurfürsten und Könige von Bayern, von denen die meisten – zuletzt der Märchenkönig Ludwig II. – ein philanthropisches Weltbild verfolgten. Bis dann die Nazis den Palais als Hauptquartier und Gefängnis für die Gestapo nutzten. So schaurig tief war Deutschland damals gesunken.

Wer sich auf diesem Ort auf eine Parkbank setzt, atmet auf: Das war einmal, heute ist Deutschland ein Hort des Humanismus. Wirklich? Bereits ein Jahr nach dem Krieg sorgte dieser Platz für Proteste in der Bevölkerung, ein Schild mit seinem Namen wurde zerstört. Die Welt nach 1945 war keineswegs so heil, wie man uns weismachen will.

Das Zerstören von Inschriften und Symbolen hat in Deutschland Tradition. Nach der Überführung der drei Mitglieder der rechtsextremen Terrorgruppe NSU, die ab dem Jahr 2000 in der Bundesrepublik neun Ausländer und eine Polizistin ermordet hatten, wurden allerorten Mahnmale und Gedenkstätten errichtet. Viele wurden seither verschmiert, geschändet, mit Hakenkreuzen besprayt oder in Flüsse geworfen.

In der deutschen Publizistik hat sich deshalb die These verfestigt, dass der geistige Nährboden des Nationalsozialismus keineswegs ausgerottet sei. Schlagzeilen wie: «Der Antisemitismus war nie verschwunden» prägen die Zeitungen. Nach dem Anschlag von Halle vom 9. Oktober, bei dem ein bekennender Antisemit in einer Synagoge ein Massaker anrichten wollte – was weder durch die Polizei noch durch Bürger, sondern nur durch eine massive Eingangstür verhindert wurde –, war für viele Analysten und Historiker klar: Die Neonazi-Bewegung in Deutschland reicht weit in DDR-Zeiten zurück. Auch der «real existierende Sozialismus» konnte dies nicht verhindern, zumal dieses System auch antizionistisch ausgerichtet war.

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss hat bei der Verleihung des Büchner-Preises in Darmstadt in seiner Dankesrede das heisse Eisen aufgegriffen. Er sagte: «Die Nazis und ihr Gedankengut sind überhaupt nie weg gewesen.» Dies hat bei einigen Zuhörern Entsetzen und Empörung ausgelöst. Ein Hamburger Professor protestierte diese Woche in der NZZ gegen diese «Diffamierung» seines Landes.

Deutschland ist in Europa aber nicht allein. Als Anfang Monat die 89-jährige italienische Senatorin Liliana Segre, die noch heute die eingebrannte Nummer 75190 des KZ Auschwitz auf einem Arm trägt, eine staatliche Kommission gegen Rassismus und Antisemitismus verlangte, schlug ihr im Netz eine beispiellose Welle des Hasses entgegen. Hitler habe diese Jüdin vergessen, wurde geschrieben, die «gut in eine dieser sympathischen Verbrennungsanlagen passen würde». Jetzt wird sie durch die Polizei beschützt.

Immerhin haben die deutschen Parlamentarier einen Brandbeschleuniger aus einer wichtigen Kommission entfernt und damit ein Zeichen gesetzt. Als sich im italienischen Senat die Mitglieder nach der Rede der alten Dame respektvoll von ihren Sitzen erhoben, blieben die Abgeordneten der Rechtsparteien demonstrativ sitzen. Ein Opfer des Nationalsozialismus ist für sie keiner Ehrbezeugung mehr wert.

Diese Zeiten sollten überwunden sein, meint Salvini. Und damit geht er, bewusst oder unbewusst, wieder hinter sie zurück.

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