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Man bringt sie nicht mehr um – aber sonst?

Andrea
Masüger
02.02.20 - 04:30 Uhr

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Vor ein paar Tagen, am 27. Januar, wurde in Auschwitz der 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager-Häftlinge durch die Rote Armee gefeiert. Zwei Wochen später, am 9. Februar, kommt in der Schweiz eine Erweiterung der Anti-Rassimus-Strafnorm zur Abstimmung. Was haben die beiden Daten gemeinsam? Mehr als man denkt.

In Auschwitz-Birkenau war die «Hauptbeschäftigung» der KZ-Schergen das Töten von Juden, doch auch andere Ethnien und Volksgruppen wurden umgebracht. Auch Menschen mit einer anderen als der gewohnten sexuellen Orientierung (wie man heute sagen würde) passten nicht ins völkische Schema der Nazis und wurden eliminiert. Man schätzt, dass etwa die Hälfte der rund 10 000 Homosexuellen, die in die verschiedenen KZ in und ausserhalb des Reichs verschleppt wurden, in den Gaskammern oder auf andere Weise ums Leben kamen. Bekannt ist die gezielte Mordaktion an 200 schwulen Männern im Juli 1942 im KZ Sachsenhausen.

Homosexuelle und Lesben werden heutzutage – zumindest in unseren Breitengraden – nicht mehr umgebracht. Sie müssen auch nicht mehr den berüchtigten rosaroten Winkel tragen, der sie in den Vernichtungslagern stigmatisierte. Aber sie erfahren auch in unserer aufgeklärten Welt noch üble Formen der Diskriminierung. Sie hören auf den Strassen nicht nur dumme Sprüche, sondern auch Bemerkungen wie: «Ihr seid ekelhaft!» Sie werden bespuckt und beschimpft. Im Zürcher Niederdorf wurde in der Silversternacht ein schwules Paar verprügelt. In der Langstrasse und am Central gab es schon früher immer wieder Attacken auf Homosexuelle. Zürich ist ein unsicheres Pflaster für Menschen, die nicht genau gleich sind wie die Mehrheit.

Der Auschwitz-Überlebende Marian Turski hat an der Gedenkfeier in seiner Rede klipp und klar gesagt: «Auschwitz fiel nicht vom Himmel.» Der Hass gegen Juden, Schwule, Fahrende und andere «Lebensunwerte» war nicht einfach plötzlich da. Er breitete sich seit Jahrzehnten schleichend aus, war latent schon im Kaiserreich und dann in der Weimarer Republik vorhanden, auch im Ausland. Eine solche Entwicklung kann immer wieder passieren; das zeigen die rechtsextremen Bewegungen, die derzeit überall auf- keimen, und das zeigen die zunehmenden Angriffe und Schmierereien in KZ-Gedenkstätten.

Marian Turski, der in Auschwitz dem Tod von der Schippe gesprungen war, sagte deshalb am vergangenen Montag vor seinen Leidensgenossen, die das selbe traurige Glück hatten wie er, vor den Staatschefs und vor dem internationalen Publikum einen denkwürdigen Satz. Es müsste eigentlich ein elftes Gebot geben in der Bibel: «Seid nicht gleichgültig.»

Wenn man nicht gleichgültig bleiben will, muss man am 9. Februar an der Urne Ja sagen. Gewiss, die Ausweitung der geltenden Anti-Rassismus-Strafnorm auf die sexuelle Orientierung ist kein Wundermittel, wie es Gesetzesartikel selten sind. Sie wird auch konkret nicht allzu viel Neues bewirken. Wer Menschen angreift, verletzt oder beleidigt, wird schon heute bestraft. Wenn künftig aber nicht nur der Aufruf zu Hass und Diskriminierung gegen Rasse, Ethnie und Religion verboten ist, sondern eben auch Homosexuelle, Lesben und Transsexuelle davor geschützt werden, dann setzt der Staat immerhin klare Schranken. Der homosexuelle Zürcher Rechtsprofessor und SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt sagt denn auch, die neue Norm sei in erster Linie ein politisches Signal. Genau das ist sie: Sie soll denen, die nicht ganz so sind wie die anderen, mehr Sicherheit und eine gewisse gesellschaftliche Rücken- deckung geben.

Die Vorwürfe der Gegner, es handle sich um ein Zensurgesetz und Schwulenwitze würden verboten, ist gefährliches Gefasel. Die Meinungsfreiheit ist dort zu beschränken, wo sie andere gefährdet. Idioten wird es immer geben, aber man soll sich wenigstens gegen sie wehren können. Denn sonst kommt sie bald, unmerklich und schleichend: die Gleichgültigkeit.

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