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Das verlorene Jahr lässt uns anders denken

Andrea
Masüger
10.05.20 - 04:30 Uhr
Rascheren Gasse Altstadt
Rascheren-Gasse Chur fotografiert am 13. März 2018 Bild Yanik Bürkli
Yanik Buerkli

In seiner Kolumne «Masüger sagts» widmet sich Andrea Masüger aktuellen Themen, welche die Schweiz und die Welt bewegen (oder bewegen sollten). Der heutige Publizist arbeitete über 40 Jahre bei Somedia, zuerst als Journalist, dann als Chefredaktor, Publizistischer Direktor und zuletzt als CEO.

Der Bundesrat hat coronabedingt die Volksabstimmung gestrichen, die in einer Woche hätte stattfinden sollen. Er hat das gesamte Abstimmungspaket auf den 27. September verschoben: Die Begrenzungsinitiative der SVP, das revidierte Jagdgesetz mit dem gelockerten Wolfsschutz und den Steuerabzug für die Kosten der Kinderbetreuung. Um nicht in einen Abstimmungsstau zu geraten, hat er zudem zwei weitere Vorlagen in den Herbsttermin gezwängt: Jene über den Kauf neuer Kampfjets für die Schweizer Armee und den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub.

Wir haben es in diesem Fünferpack also mit Europa- und Wirtschaftspolitik, mit Landesverteidigung, mit Sozialpolitik und ein bisschen mit Natur- und Tierschutz zu tun. In normalen Zeiten wäre das Abstimmungsresultat in diesen drei Bereichen einigermassen absehbar gewesen: Die reiche Schweiz hätte vielleicht tatsächlich das Experiment gewagt und Europa die kalte Schulter gezeigt, weil uns der bisherige Wohlstand verwöhnt hat. Die Stimmbürger hätten sich gefragt: Weshalb brauchen wir denn diese komische Personenfreizügigkeit überhaupt? Die Kampfjets hätten es einmal mehr schwer gehabt, wie damals der Gripen. Wozu sechs Milliarden für noch mehr Fluglärm? Den Wolf hätten die Städter den Bergbauern nicht mehr zumuten wollen. Und Papi-Zeit und Bundesmanna für die Fremdbetreuung der Kleinen wären zu komfortablen Mehrheiten gekommen.

Doch nun wird alles anders. Corona hat unsere Hirne besetzt. Das politische Denken der Schweiz läuft heute nach zwei Monaten Lockdown und immensen wirtschaftlichen Schäden in anderen Bahnen als noch vor kurzer Zeit. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts hat die Zahl 20 die berühmten goldenen Jahre eingeleitet, der Erste Weltkrieg war soeben vorbei, Aufbruchstimmung herrschte.

Doch das vermaledeite 2020 wird zu einem verlorenen Jahr werden. Auf zwei irreale Monate, die man sich zu Hause um die Ohren schlagen musste, folgt eine ängstliche Sommerzeit ohne richtige Lebensfreude. Flugs wird es Herbst und mit einem Schlag kommt der Winter. Wir werden weder viel kaufen in diesem Jahr, keine Ferien machen und schon gar nicht Feste feiern. Und in der Familienkasse herrscht Ebbe. An Silvester würden wir dieses Coronajahr gerne einfach ausknipsen, die Reset-Taste drücken. Achtung, error, bitte nochmals von vorn.

Deshalb wird man auch mit grösster Vorsicht abstimmen. Sozialmassnahmen, die Hunderte von Millionen kosten, haben keine Chance mehr. Man braucht das Geld jetzt für die Corona-Bewältigung. Wer will denn noch ernsthaft von einem Vaterschaftsurlaub reden? Haben wir nicht genug Urlaub gehabt im März und April? Und wer faselt denn da etwas von einer Folgevorlage für einen Elternurlaub von 30 Wochen? Sind die noch bei Trost? Und soeben hat das Parlament 65 Millionen in die Kinderkrippen gesteckt. Da wären ja weitere 370 Millionen Franken für einen Steuerabzug für die auswärtige Kinderbetreuung schlicht übertrieben. Also nein.

Mit einem anderen Kostenpaket wird man aber grosszügiger sein. Die Armee hat in den letzten Wochen enorm an Profil gewonnen. Der schneidige Brigadier Droz hat an den points de presse im Berner Medienzentrum gezeigt, dass auf das Militär in Notzeiten Verlass ist. Und hat nicht gerade diese Krise deutlich gemacht, wie wichtig Prävention und rechtzeitige Abwehrbereitschaft sind? Das Volk wird deshalb die neuen Kampfjets durchwinken, auch wenn sie eine Stange Geld kosten.

Und gar nicht mehr spassen mag man mit der Wirtschaftspolitik. Wir haben gesehen, was ein abgeschottetes Land für ökonomische Ausfälle zur Folge hat. Wollen wir es mit unserem wichtigsten Handelspartner verderben und die bilateralen Verträge wegen der Personenfreizügigkeit mutwillig in den Reisswolf stecken? Für die SVP kam Corona auch abstimmungstechnisch zum ungünstigsten Zeitpunkt.

Fragt sich noch, was mit dem Wolf passiert. Dieser ist bekanntlich virusfrei und ein schönes Wildtier in einer Natur, die uns in langen Spaziergängen wieder nähergekommen ist. Man wird ihn leben lassen, als kleines Zeichen der Hoffnung.

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Moi Andrea.
In dieser Ausnahmezeit ist mir ein agierender Bundesrat lieber als ein uneiniges Parlament das auf die schnelle unfähig ist sofort Entscheidungen zu treffen.
Lg peter (Aus der Sek. Quader)

Das Jahr ist noch lange nicht vorbei und man kann kein Jahr ausblenden. Es gibt in jedem Jahr Schwierigkeiten oder Naturereignisse, die uns hart treffen. Wichtig ist doch, dass die Schweiz die richtigen Lehren daraus zieht.
Sind die Kampfjet wirklich das richtige Mittel gegen grosse Gefahren oder kommen diese von ganz wo anders her? Brauchen wir eine so grosse Zuwanderung oder sollen wir die Arbeitslosen zuerst beschäftigen, wenn die Schweiz ohnehin schon voll ist und die Sozialwerke am Anschlag?
Wäre es nicht sicherer, wenn wir ein weniger unabhängiger von den Handelspartnern wären und wieder einiges mehr in der Schweiz selber produzieren würden? Wir könnten auch mit Holz heizen, statt mit Erdgas und Erdöl!
Ich meine, es ist Zeit für eine Reflektion auf allen Stufen, statt zurücksetzen.

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