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Vergöttert, verhaftet, verhöhnt und vergessen

Die Weltfilmtage in Thusis lassen die unterschiedlichsten Schicksale Revue passieren, und jedes einzelne berührt auf seine Weise. Sechs Tage lang dreht sich im Kino Rätia alles um Menschlichkeit.

Carsten
Michels
01.11.21 - 12:02 Uhr
Kultur
Szene aus Milo Raus Film «Das neue Evangelium», der an den 31. Weltfilmtagen im Thusner Kino Rätia gezeigt wird.
Szene aus Milo Raus Film «Das neue Evangelium», der an den 31. Weltfilmtagen im Thusner Kino Rätia gezeigt wird.
Pressebild

Nachdem die Feier des 30-Jahr-Jubiläums der Pandemie zum Opfer gefallen ist, gehen die Weltfilmtage Thusis in ihrer 31. Ausgabe halbwegs zum «Courant normal» über. Zwischen 2. und 7. November zeigt das Festival im Kino Rätia 34 Filme aus vier Kontinenten – neben Europa stehen Afrika, Südamerika und Asien im Fokus. Dazu gibt es Gespräche mit Filmschaffenden, etwa mit der schweizerisch-albanischen Dokumentarfilmerin Dea Gjinovci, dem syrisch-kurdischen Kameramann, Regisseur und Produzenten Mano Khalil sowie dem argentinischen Filmemacher Alejandro Telémaco Tarraf.

Ebenfalls als Gast nach Thusis kommt Milo Rau. Der Schweizer Autor, Theater- und Filmemacher spricht am Donnerstag, 4. November, im Anschluss an die Vorführung über seinen jüngsten Film «Das neue Evangelium». Dieser hat im März den Schweizer Filmpreis in der Kategorie «Bester Dokumentarfilm» gewonnen.

Vom Märchen in die Realität

Eröffnet werden die Weltfilmtage im Kino Rätia am Dienstag um 13.30 Uhr mit dem tunesisch-französischen Film «Le collier perdu». Darin schildert Regisseur Nacer Khemir die Liebesirrungen und -wirrungen des Kalligrafie-Schülers Hassan. Der auf einer berühmten Erzählung des Gelehrten und Dichters Ibn Hazm beruhende märchenhafte Film entstand bereits 1990. Der «Tages-Anzeiger» kürte ihn 1991 zum «schönsten Film der Berlinale». In Thusis ist er nun in einer restaurierten Fassung zu sehen. «Le collier perdu», heisst es in der Ankündigung, zeige das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen, Religionen und Lebensformen.

Weniger friedlich, dafür ganz gegenwärtig geht es anschliessend in «Sin señas particulares» zu. Ein junger Mexikaner verschwindet spurlos. Der Teenager hatte sich voller Erwartung in Richtung Grenze aufgemacht, um in den USA sein Glück zu versuchen. Ins Zentrum ihres Filmdebüts rückt die mexikanische Regisseurin Fernanda Valadez die Suche der verzweifelten Mutter nach dem Sohn. Kein Einzelfall, wie sich bald herausstellt.

SRF spricht von «Kultstatus»

«Sin señas particulares» verweist wie ein Grossteil der gezeigten Filme auf den politischen Anspruch, den das Festival seit über 30 Jahren an sich selber stellt. Gegenüber Radio SRF 2 sagte Regina Conrad vom OK-Team vergangene Woche, man wolle die Leute gerne auf das aufmerksam machen, was in der Welt laufe, auch auf das, was nicht so gut laufe. SRF hatte eigens eine Filmredaktorin nach Thusis geschickt, um im Vorfeld über das Festival zu berichten, das «in der ganzen Schweiz mittlerweile Kultstatus» habe. Gründungsmitglied Thomas Keller erzählte im Interview von den Anfängen der Weltfilmtage, wo es noch schwierig gewesen sei, die entsprechenden Filme aufzuspüren. «Heute sind wir in der glücklichen Lage, dass auch viele Schweizer Verleiher Filme in ihrem Repertoire haben, die in unser Programm passen.»

In der Tat ist die Themenpalette der 31. Weltfilmtage einmal mehr vielfältig: «Captains of Zaatari» (3. 11.) gestattet einen Blick in das grösste Flüchtlingslager Jordaniens, wo die syrischen Jugendlichen Fawzi und Mahmoud von einer fernen Zukunft als Profifussballer träumen. In «Quo Vadis, Aida?» (4. 11.) beleuchtet Jasmila Žbanić die dramatischen Ereignisse im Jahr 1995 während der serbischen Belagerung der bosnischen Stadt Srebrenica. «Luzzu» (5. 11.) begleitet einen maltesischen Fischer, der sich gegen die rücksichtslose Fischindustrie behaupten muss und unter der Zerstörung des Ökosystems leidet. Und «Night of the Kings» (5. 11.) führt in ein Gefängnis der Elfenbeinküste, wo die Häftlinge einen gerade inhaftierten Strassenjungen umzubringen drohen, falls er sie nicht mit spannenden Geschichten fessele.

Plötzlich hochaktuell

Das «Fenster zur Welt» – als das sich das Festival seit jeher versteht – blickt naturgemäss in die jüngere Geschichte. Von der Planung eines Films bis zu seiner Fertigstellung sind oft mehrere Jahre vergangen. Manchmal aber wird ein Film ohne eigenes Zutun plötzlich hochaktuell. Daniel von Aarburg – selber Filmemacher und mit Flurina Badel zuständig für die Medienarbeit der Weltfilmtage – verweist auf «The Pink Cloud» (5. 11.). Der Plot: Eine brasilianische Stadt wird von einer mysteriösen rosa Wolke heimgesucht; sie sei tödlich, heisst es. Die Bewohner müssen zuhause bleiben, ein Lockdown wird verhängt. «Das Drehbuch ist nachweislich vor der Pandemie entstanden», sagt von Aarburg. «Und nun ist es der Film der Stunde.»

Ausgehend von den Empfehlungen des Branchenverbandes Procinema haben die Macher der Weltfilmtage ihr Schutzkonzept ausgearbeitet. Im Aussenbereich des Kinos Rätia sowie im gesamten Gebäude inklusive Foyer und Toiletten gilt Maskenpflicht (ab 12 Jahren) – auch während den Vorstellungen. Besuchende ab 16 Jahren müssen ein gültiges Covid-Zertifikat (3G) vorlegen. Es gibt eine Testmöglichkeit vor Ort. Zwischen den Filmvorführungen wird 30 Minuten pausiert, um den Kinosaal gut zu durchlüften, zu reinigen und zu desinfizieren. (red)

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