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«Ich hätte mich sehr gerne geirrt»

Sie nimmt bekanntlich kein Blatt vor den Mund: alt Nationalrätin Barbara Keller-Inhelder (SVP). Das ist ein Jahr nach dem Sitzverlust der Kempratnerin noch immer so. Aus aktuellem Anlass sowieso.

Fabio
Wyss
21.10.20 - 04:30 Uhr
Politik
Bild Keystone
Ein Jahr danach: alt Nationalrätin Barbara Keller im Interview
BILD KEYSTONE

Ist die Schweiz vorbereitet auf gefährliche ansteckende Krankheiten? So lautete der letzte Vorstoss von Barbara Keller-Inhelder im Nationalrat. Und das Monate, bevor die Covid-19-Pandemie grassierte. Heute vor einem Jahr verpasste Keller-Inhelder die Wiederwahl. Damals sagte sie der «Linth-Zeitung» bezogen auf ihre Zukunft: «Ich bin sehr schicksalsgläubig.» Angesichts des kurz nach der Wahl ausgebrochenen Coronavirus wirkt das heute fast schon zynisch. Zynismus liegt der SVP-Politikerin im Interview aber fern.

Barbara Keller-Inhelder, sind Sie generell ein vorsichtiger Mensch?

Barbara Keller-Inhelder: Ja. Ich bin eine Volvo fahrende Sicherheitspolitikerin, die in jedem Lebensbereich Risiken abschätzt und eher vorsichtig ist. Ich habe auch eine Alarmanlage im Haus und eine selbstschützerische Leidenschaft für Kampf- und Schiesssport (schmunzelt).

Die Frage zielte eher auf Ihre letzte Interpellation ab, bei der Sie vor ansteckenden Krankheiten warnten. Wieso wussten Sie, dass es diesbezüglich Nachholbedarf gab in der Schweiz?

Mein Mann ist beruflich oft in asiatischen Ländern unterwegs. Wir hatten auch drei Jahre lang einen Zweithaushalt in Indien. Bereits vor Jahren habe ich mich mit Viren befasst, von denen wir in Europa jeweils verschont geblieben sind. Aus meiner Arbeit in der Sicherheitspolitischen Kommission und von Fachärzten wusste ich, dass die Schweiz nicht vorbereitet war für eine Pandemie.

Inwiefern?

Grundlegendste Mittel fehlten, wie Desinfektionsmittel oder Schutzmasken. Die Bevölkerung wurde nie vorbereitet, obwohl auf das ernst zu nehmende Risiko mehrfach aufmerksam gemacht worden war.

Und wie reagierte der Bundesrat auf Ihren Vorstoss?

Der Bundesrat stützte sich auf das Bundesamt für Gesundheit. Die BAG-Verantwortlichen zeigten sich besorgniserregend sorglos bis verantwortungslos ignorant. In der Antwort klammerte der Bundesrat dann Wesentliches aus.

Das sind heftige Worte …

Die Geschichte lehrt uns, dass es immer wieder zu hochansteckenden Krankheiten kommt, die viele Millionen von Menschenleben auslöschen, wie Pocken, die Pest, die Spanische Grippe, SARS-CoV und viele weitere.

Die Menschen vergessen schnell, aber das BAG hätte die Pflicht gehabt, die Schweiz auf solche Ereignisse vorzubereiten.

Einen Monat nach Ihren Vorstössen wurden Sie im Nationalrat nicht wiedergewählt, ein halbes Jahr darauf verhängte die Schweiz einen Lockdown. Fühlen Sie sich nun in Ihren Unkenrufen bestätigt?

Durchaus, das hat mir aber keine Freude bereitet – hier hätte ich mich sehr gerne geirrt.

Vor einem Jahr hiess es für Barbara Keller-Inhelder: Sachen zusammenpacken im Nationalrat. BILD KEYSTONE
Vor einem Jahr hiess es für Barbara Keller-Inhelder: Sachen zusammenpacken im Nationalrat. BILD KEYSTONE

Gerade Ihre Partei – die SVP – kritisierte das Krisenmanagement des Bundesrates früh. Wie beurteilen Sie dieses?

Das BAG hat zuerst endlos lange verharmlost, dadurch viele wertvolle Zeit verloren und dann überreagiert und überreguliert. Der Bundesrat hat sich dabei auf das BAG verlassen.

Dennoch waren die Massnahmen zielführend.

Ja, aber der Preis war enorm hoch. Wirtschaftliche Existenzen wurden teilweise vollkommen unnötig zerstört. Wegen der schlechten Vorbereitung agierte das BAG willkürlich und planlos: Gartengeschäfte durften in der für sie wichtigen Verkaufszeit keine Setzlinge und Blumen verkaufen und mussten alles wegwerfen. Bei Detailhändlern durfte ohne Masken eingekauft werden – bis auf Blumen: Diese mussten abgedeckt werden.

Der Flickenteppich der letzten Wochen zeigte aber, dass die Kantonsentscheide für noch mehr Willkür sorgten.

Ich finde es richtig, dass Kantone sich nach ihrer eigenen Situation anpassen können. Aber ich denke auch, dass die Gesundheitsdirektorenkonferenz sich auf ein klares Konzept einigen sollte – mit klar definierten Gefahrenstufen und damit verbundenen Vorschriften.

Sprechen Sie damit den Kanton Schwyz an, wo zu lange zugeschaut wurde – bis das Spital an die Grenzen stiess?

Genau. Es sollten klare Messwerte definiert werden: die Anzahl Tests in Relation zur Anzahl der davon positiven Resultate. Dies wiederum in Relation zur Zahl der Hospitalisierungen und der Todesfälle. Aus diesen Zahlenwerten sollte ein Stufenplan mit entsprechenden Vorschriften gelten.

Wie könnte dieser aussehen?

Bei der Stufe Grün gelten keine Vorschriften, bei Gelb und Orange folgen Abstandsregeln, Maskenpflicht, Trennwände oder Homeoffice etc. Erst bei Rot – nur wenn es wirklich unumgänglich ist – folgt ein Lockdown.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir noch eine Weile mit den aktuellen oder neuen Viren leben müssen. Wenn wir gut organisiert sind, können wir diversen Schaden reduzieren und sogar Gutes daraus machen.

Ihr Sitzverlust und der Rückgang an Wählerstimmen bei der SVP verlaufen parallel. Steckt die SVP in einer Identitätskrise?

Die SVP hatte schnell grossen Erfolg und ist nun heterogen zusammengesetzt: von sehr ländlich bis sehr urban, vom Handwerker bis zum Hochschulprofessor. Mit der neuen Parteiführung bin ich zuversichtlich, dass sich die SVP in meinem Sinn weiter entwickelt: hart, konsequent und unbequem in den Themen, aber anständig und kompromissbereit.

Was müsste passieren, um wieder mehr Wähler zu gewinnen?

Unsere Inhalte bräuchten mehr Plattformen. Seit einiger Zeit füllen bewirtschaftete Skandale und Pseudoskandale die Mainstream-Medien. Für eine echte Auseinandersetzung mit Inhalten hat es nur in wenigen Organen Platz. Themen, die meines Erachtens ernst zu nehmen wären, hätten wir.

Würden Sie eigentlich lieber wieder direkt Einfluss nehmen oder ziehen Sie das Leben abseits der Politbühnen vor?

Nach 20 Jahren Legislative und vor allem nach der Zeit in Bern geniesse ich mein neues – wieder selbstbestimmtes – Leben.

Barbara Keller-Inhelder vor ihrem Haus in Kempraten. ARCHIVBILD LINTH-ZEITUNG
Barbara Keller-Inhelder vor ihrem Haus in Kempraten. ARCHIVBILD LINTH-ZEITUNG

Wie sieht dieses aus?

Ich arbeite in meiner Firma und präsidiere eine Berufsmaturitätskommission. Dazu engagiere ich mich nach wie vor in mehreren Vorständen, Lenkungsausschüssen oder Stiftungsräten. Nach wie vor setze ich mich für Korrekturen der Kindes- und der Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) ein. Langweilig wurde mir noch nicht.

Bei der Kesb müssen Sie auf das Wort betroffener Personen vertrauen. Wie grenzen Sie ab, was wahr oder unwahr ist?

Man muss sehr viel Zeit investieren in die betroffenen Menschen, ihre Dossiers studieren, mit ihnen und dem Umfeld sprechen. Das tun auch geeignete Kesb-Mitarbeitende. Ihnen steht eine hohe Wertschätzung für ihre schwierige Arbeit zu. Andere Mitarbeitende verfügen aber teils vom Schreibtisch aus, ohne je bei einem Betroffenen zu Hause gewesen zu sein.

Wird man politisch von Ihnen künftig wieder mehr hören?

Inhaltlich sicher.

Und in Form eines Politamtes?

Handlungsbedarf sehe ich keinen, aber ich schliesse das nicht aus.

Zur Person
Barbara Keller-Inhelder (52) hat jahrzehntelang das Politgeschehen im Kanton St. Gallen mitbestimmt. 15 Jahre lang wirkte sie im Kantonsrat mit und während der letzten Legislatur politisierte sie im Nationalrat. Heute hält sie noch das Amt der SVP-Vizepräsidentin von St. Gallen inne. Seit fünf Generationen wohnt die Familie Keller in einem Jugendstilhaus in Kempraten. Die Mutter von Zwillingen freut sich auf Prominenz, die bald in der Nachbarschaft einziehen soll: «Roger Federer ist ein aussergewöhnlicher Sympathieträger.» (wyf)

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