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Hirschers Rücktritt eine Chance für die Speed-Fahrer

Marcel Hirscher hinterlässt mit dem Rücktritt seinen ehemaligen Kollegen in den Techniker-Gruppen ein schweres Erbe. Für die Speed-Fahrer des ÖSV könnte der Abgang des Überfahrers eine Chance sein.

Agentur
sda
04.12.19 - 06:00 Uhr
Ski alpin

Ganz ohne Marcel Hirscher ging es auch nach dem Sieg von Matthias Mayer im Super-G am Sonntag in Lake Louise nicht. Der Hinweis, dass im vierten Weltcup-Rennen nach dem Rücktritt des Dominators zum ersten Mal ein Österreicher gewonnen hatte, musste sein. In den österreichischen Medien war aus den Kommentaren zwischen den Zeilen Erleichterung herauszulesen - und die Hoffnung, die Techniker mögen sich an den Speed-Fahrern ein Beispiel nehmen.

Ganz so einfach wird es nicht werden. Die von Hirscher aufgerissene Lücke wird so schnell nicht zu schliessen sein. Der Riesenslalom in Sölden und der Slalom in Levi haben das gezeigt. Auf dem Rettenbach-Gletscher war Manuel Feller als Zwölfter bestklassierter Österreicher, was gleichbedeutend mit der schlechtesten Bilanz der einheimischen Fahrer beim traditionellen Prolog im Oktober war. In Finnland war die Ernüchterung ähnlich gross. Einzig Christian Hirschbühl schaffte als Siebenter den Sprung in die ersten zehn.

41:1 Siege

Dass Hirscher so manche Rangliste für die ÖSV-Fraktion geschönt hat, ist bekannt. Trotzdem sollen zwei Zahlen aus den Statistiken die Abhängigkeit von Hirscher nochmals verdeutlichen. Sie zeigen, dass die Ergebnisse in Sölden und in Levi der Realität ziemlich nahe und deshalb nicht völlig unerwartet kommen. In den letzten fünf Wintern feierten die Österreicher im Männer-Weltcup 63 Siege, 44 davon errang Hirscher, Anteil knapp 70 Prozent. Ein noch viel deutlicheres, unfassbar anmutendes Ergebnis bringt der Vergleich in den technischen Wettbewerben. Von den 42 Siegen in diesen fünf Jahren gingen 41 auf das Konto von Hirscher.

Für die Ehrenmeldung des grossen Rests der Mannschaft sorgte Michael Matt im März vor zwei Jahren im Slalom in Kranjska Gora. Der letzte Riesenslalom-Gewinner aus Österreich, der nicht Marcel Hirscher hiess, war übrigens der im Frühling ebenfalls zurückgetretene Philipp Schörghofer. Vor knapp neun Jahren war das, im Februar 2011 in Hinterstoder.

Die Speed-Spezialisten stehen nach Hirschers Abgang nicht so massiv im Gegenwind wie ihre Kollegen des Riesenslalom- und des Slalom-Teams. Der auf sie gerichtete Fokus ist aber schon etwas grösser geworden, sie werden vermehrt in der Verantwortung stehen. «Marcel hat sehr viel (Aufmerksamkeit) auf sich gezogen, von uns aber auch viel Druck genommen», sagt der mittlerweile 39-jährige Hannes Reichelt.

Der Druck mag etwas zugenommen haben. Hirschers Abgang kann für die Speed-Fahrer aber auch eine Chance sein. Die Aussicht, vom Neben- zum Hauptdarsteller zu werden, beflügelt und steigert das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen, das wiederum die Leistung fördert.

Die Werte in der öffentlichen Wahrnehmung könnten sich wieder zugunsten jener Abteilung in Österreichs Skiverband verschieben, der vor der Ära Marcel Hirscher traditionsgemäss die grösste Beachtung geschenkt und das grösste Gewicht beigemessen worden war. In den Zeiten von Abfahrts-König Franz Klammer oder später, als die von Hermann Maier und Stephan Eberharter angeführte Jahrhundert-Equipe im Weltcup wie eine Furie wütete und die Konkurrenten zu Statisten degradierte, waren Siege im Riesenslalom und im Slalom Zugaben, die zwar höchst willkommen waren, auf das Selbstverständnis der Skination Nummer 1 aber keinen entscheidenden Einfluss hatten.

Das neue Potenzial

Österreichs aktuelle Speed-Mannschaft lässt sich mit dem damaligen Wunderteam nicht vergleichen. Über Potenzial und Talent verfügt aber auch sie in hohem Mass. Sepp Brunner, der nach dem stillosen Rauswurf bei Swiss-Ski die dritte Saison als Disziplinenchef in Angriff genommen hat, weiss ein Trio in seinen Reihen, das in jeder Abfahrt und in jedem Super-G zum Sieg fähig ist. Das gilt für Matthias Mayer ebenso wie für Vincent Kriechmayr, den nicht nur Beat Feuz für den aktuell besten Techniker im Kreis der «schnellen Männer» hält, und für Max Franz, der allerdings nach seiner im Januar erlittenen Fussverletzung und dem vorzeitigen Saisonende seine Bestform bisher nicht wiedergefunden hat.

Der nächste Sieg eines Österreichers in Abfahrt und Super-G dürfte nicht allzu fern sein. Vielleicht ist es schon am Freitag oder am Samstag in Beaver Creek, Colorado, soweit. Es wäre das fünfte Weltcup-Rennen nach Marcel Hirschers Rücktritt. Oder das sechste. Falls in Österreich überhaupt weiter gezählt wird.

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