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Die KVA will mit Müll das Klima retten

Die Kehrichtverbrennungsanlage in Niederurnen ist für einen grossen Teil des Glarner CO2-Ausstosses verantwortlich. Jetzt will die KVA Linth das Treibhausgas, das beim Verbrennen des Mülls entsteht, einfangen und unter der Nordsee einlagern. Der Kanton Glarus könnte seine Emissionen halbieren.

Ueli
Weber
22.05.20 - 09:26 Uhr
Wirtschaft
Geschäftsführer Walter Furgler in der Schaltzentrale.
Geschäftsführer Walter Furgler in der Schaltzentrale.
SASI SUBRAMANIAM

Sie arbeiteten lange im stillen Kämmerlein, nur der Geschäftsführer und ein Chemiker der Kehrichtverbrennungsanlage (KVA) Linth in Niederurnen. «Wir wollten keine Luftschlösser verkaufen», sagt Walter Furgler, der Geschäftsführer, heute. Mittlerweile sind sie sich sicher: Technisch ist es machbar.

Die KVA Linth will eine Filteranlage bauen, die einen Grossteil des Kohlendioxids einfängt, das bei der Abfallverbrennung entsteht. Carbon Capture and Storage, oder kurz CSS, nennt sich die Technologie auf Englisch. Unter anderem in einigen deutschen Kohlekraftwerken wird die Technologie schon eingesetzt.

Wenn die Filteranlage tatsächlich gebaut wird, stellt sie mindestens die Klimabilanz des Kantons Glarus auf den Kopf. Die Köpfe hinter dem Projekt – es sind mittlerweile weit mehr als Furgler und sein Mitarbeiter im stillen Kämmerlein – haben aber weit Grösseres im Sinn: Die KVA Linth soll als Blaupause für die restlichen Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen dienen. Damit würde sie einen ernsthaften Beitrag zum gesamtschweizerischen Klimaschutz leisten. Die KVA sind einer der wichtigsten Produzenten von Treibhausgasen im Land. Sie verursachen 4,5 Prozent aller CO2-Emissionen. Das Einsparpotenzial der Technologie ist nochmals grösser, versprechen sie sich.

Transport mit Bahn und Schiff

Zuerst muss die KVA Linth aber im Glarnerland beweisen, dass tatsächlich funktioniert, was sie vorhat. Jede Tonne Abfall, die im Ofen der KVA verbrennt, setzt eine Tonne CO2 frei. Dieses Kohlendioxid will die KVA mit einer Filteranlage einfangen, bevor es über den Kamin freigesetzt wird. Danach wird das CO2 gemäss aktuellem Planungsstand über eine Leitung zu einer Bahnverladestelle transportiert.

Forscher der ETH befassen sich mit der Logistik: Per Bahn und später per Rheinschiff wird das CO2 in flüssiger Form nach Rotterdam transportiert, von wo aus es nach Norwegen verschifft wird. Dort wird das CO2 in ausgebeuteten Gasfeldern unter der Nordsee eingelagert. Über einen Zeitraum von etwa 1000 Jahren soll dann das CO2 dauerhaft im Gestein gebunden werden.

Wie CO2 auf Papier verschwindet

Die Kehrichtverbrennungsanlage ist für einen Viertel des Glarner CO2-Ausstosses verantwortlich. 55 000 Tonnen fossiles CO2 gelangte 2019 über ihre Verbrennungsöfen in die Luft. Der Kanton Glarus stiess insgesamt rund 220 000 Tonnen fossiles CO2 aus.

Die Filteranlage der KVA würde aber weit mehr als einen Viertel des Glarner Treibhausgas-Emissionen reduzieren: Mit der CO2-Abspaltung kehrt die KVA ihre CO2-Bilanz auf dem Papier ins Negative. Das heisst, sie entzieht der Atmosphäre sogar Kohlendioxid. Im ersten Moment klingt es, als hätten sich Furgler und seine Mitarbeiter im stillen Kämmerlein einen Taschenspielertrick ausgedacht. Wie machen sie es?

Die negative CO2-Bilanz erklärt sich aus der Weise, wie die Treibhausgas-Emissionen von Kehrichtverbrennungsanlagen berechnet werden. Die 55 000 Tonnen fossiles CO2 sind nur die halbe Geschichte. Aus dem Kamin in Niederurnen entweichen tatsächlich mehr als 100 000 Tonnen CO2 im Jahr. Gut die Hälfte davon wird der Klimabilanz der KVA aber nicht angerechnet. Es handelt sich dabei um CO2 aus biogenen Abfällen – also Kohlendioxid, das entsteht, wenn etwa Holz oder Kautschuk verbrannt wird. Solche organischen Abfälle machen die Hälfte des Materiales aus, das in den Öfen der KVA landet.

Anders als CO2 aus fossilen Quellen wie Öl, das hunderte Millionen Jahre unter der Erdoberfläche lagerte, zählt biogenes CO2 zum Kreislauf der Natur: Bäume binden CO2 und geben es nach ihrem Tod wieder frei. Ob ein Baum nun heute verbrannt wird oder in zehn Jahren umfällt und verfault, macht für das Klima langfristig keinen Unterschied. Seine Verbrennung fügt dem natürlichen Kreislauf im Gegensatz zu fossilen Brennstoffen keine zusätzlichen Treibhausgase hinzu. Biogenes CO2 gilt darum als klimaneutral.

Das biogene CO2 wird von der Filteranlage aber genauso eingefangen wie fossiles CO2. Chemisch gibt es keinen Unterschied zwischen den beiden. Die KVA entzieht also dem natürlichen Kreislauf CO2 und verbannt es wie das Erdöl für Jahrmillionen unter die Erdoberfläche.

«Eine Klimaschutzanlage»

Die KVA schätzt derzeit, dass sie mit dem Bau der Filteranlage so viel Kohlendioxid einsparen könnte, dass sie den CO2-Ausstoss des Kantons Glarus halbieren würde. Furgler sagt: «Die KVA würde eine Klimaschutzanlage im besten Sinne.»

Die Pläne der KVA eröffnen eine neue Chance für die Politik. Der Kanton Glarus hat die Klimaschutz-Ziele des Bundes knapp verpasst. Bis 2020 sollte die Treibhausgas-Emissionen 20 Prozent tiefer liegen als 1990. Das eigene Ziel, minus 30 Prozent bis 2020, hat Glarus deutlich verpasst. Jetzt könnte der Kanton auf einen Schlag seine Klimaziele erreichen. Auch darum unterstützt der Glarner Regierungsrat die KVA bei einer Machbarkeitsstudie mit 30 000 Franken (siehe vier Fragen an Regierungsrat Kaspar Becker).

«Das hier ist ein Hebel»

Die KVA Linth befasst sich schon seit sieben Jahren mit Power-to-Gas-Technologien. Dabei geht es darum, Strom in Gas umzuwandeln. Die CO2-Abscheidung ist ein wichtiger Teil dieser Technologie. Was die Beteiligten gelernt haben, kommt den Mitarbeitern der KVA jetzt zugute. «Über die Jahre haben wir Know-how herausgearbeitet, das sonst fast niemand hat», sagt Furgler.

«Es ist eher eine Frage des Wollens als des Könnens.»

Die Initiative sei von der KVA und dem Verband ausgegangen, sagt Furgler. Die Kehrichtverbrennungsanlagen sind vom Emissionshandel ausgenommen. Sie handeln ihre Klimaschutzziele direkt mit Bund aus. «Irgendwann kommt auch das Ingenieurherz zum Tragen», sagt Furgler. «Wir können als mittelgrosse KVA in einer ländlichen Region einen echten Beitrag an die Klimathematik leisten.»

Die Rollen sind verteilt: Der Verband der Schweizer Abfallverwerter VBSA kümmert sich um das Lobbying und die Politik. Das Sustainability in Business Lab (Sus-Lab) der ETH Zürich erarbeitet den Transport und die Lagerung. Und die KVA Linth soll mit ihrer Pilotanlage zeigen, dass Carbon Capture in einer Kehrichtverbrennungsanlage technisch umsetzbar ist. «Aus meiner Optik ist die technische Umsetzung weniger schwierig als die politische und finanzielle Umsetzung», sagt Furgler. «Es ist eher eine Frage des Wollens als des Könnens.» Von der Wirksamkeit für das Klima ist Furgler überzeugt. Mehrere Forscherteams in der Schweiz und auch der Weltklimarat seien zum Schluss gekommen, dass die Technologie ein wichtiger Teil der Klimastrategie sein könne. «Man spricht immer über viele kleine Massnahmen», sagt Furgler. «Das hier ist ein Hebel.» Allerdings ist es ein teuerer Hebel. «Es ist eine nationale Frage, ob man das will oder nicht», sagt Furgler.

Abfallmenge nimmt zu

Der Politik stellen sich mehrere Fragen: Ist die Lagerung sicher? Lohnt es sich? Gibt es Alternativen? Die KVA gelten als eine Branche, die nur schwer ohne Kohlendioxidbelastung auskommt. So lange Abfall verbrannt wird, entsteht dabei CO2. Daran lässt sich nichts ändern. Bisher vermindern die KVAs ihre Emissionen darum vor allem indirekt: Sie können die Fernwärme und den Strom, den sie liefern als CO2-Einsparung anrechnen. Der Gedanke dahinter: Besser die KVA nutzen die Energie, die sie sowieso bei der Verbrennung des Abfalls produzieren, als dass der Strom aus einer anderen unsauberen Quelle kommt. Eine Möglichkeit, den CO2-Ausstoss tatsächlich zu senken wäre, weniger Abfall zu produzieren. Doch die Abfallmenge nahm in den vergangenen Jahren trotz Recycling nicht ab, sondern zu. Das werde gemäss Studien auch so bleiben, sagt Furgler.

Finanzierung über CO2-Zertifikate

Lohnt es sich für das Klima, CO2 durch Europa zu verfrachten? Die Forscher des Sus-Lab sagen ja. Sie haben errechnet, dass beim Transport rund sechs Prozent der gespeicherten Menge CO2 erzeugt wird. Langfristig soll das CO2 über Pipelines an seine Lagerstätte transportiert werden. Das werde deutlich billiger und umweltschonender als der Transport mit Bahn oder Schiff. Dazu muss aber ein schweizerisches und ein europäisches Pipelinenetz geschaffen werden. Überlegungen dazu gebe es europaweit, sagt Furgler. Nicht alles CO2 müsste tatsächlich nach Norwegen verfrachtet werden: Ein kleiner Teil könnte zudem zur Erzeugung von lokalem Biogas für das Glarnerland genutzt werden, erklärt Furgler.

Die wahrscheinlich grösste Frage lautet aber: Wer zahlt das? CO2-Abspaltung ist eine sehr teuere Technologie. Furgler rechnet mit Baukosten von 20 bis 30 Millionen Franken für die Filteranlage. Die KVA erwartet aufgrund den Berechnungen der ETH zudem 15 Millionen Franken jährliche Kosten für Filterung, Transport und Einlagerung. Eine enorme Summe, wenn man sie dem Umsatz von 20 Millionen Franken gegenüberstellt, den die KVA im Jahr macht.

Furgler schränkt allerdings ein: «Verlässlich beurteilen können wir diese Zahlen erst Ende Jahr.» Klar ist, dass die Kosten deutlich sinken können, wenn alle Kehrichtanlagen mitmachen und das CO2 über ein Pipeline-Netz transportiert werden kann.

Eine Möglichkeit zur Finanzierung wäre, dass die KVA Preise für die Abfallentsorgung und die Sackgebühren erhöht. Das lehnt Furgler zu diesem Zeitpunkt aber ab. Die KVA Linth würde zwar den Abfall am saubersten verbrennen. Ihre Preise wären aber viel höher als die anderer KVA. Grosskunden würden ihren Kehricht aus Kostengründen bald in einer günstigeren KVA entsorgen. Sie können im Gegensatz zu Privathaushalten entscheiden, wo sie ihren Abfall entsorgen. «Wir wären mit der heutigen Gesetzgebung nicht mehr konkurrenzfähig», sagt Furgler.

Er schlägt stattdessen ein anderes Finanzierungsmodell vor: Bund und Kantone finanzieren den Bau der Pilotanlage mit, und die Betriebskosten werden über den Verkauf von Klimazertifikaten gedeckt. Die KVA würde diese an Betriebe verkaufen, die ihren CO2-Ausstoss nicht selber senken können. «Optimal wäre natürlich, wenn der Verkaufserlös von CO2-Zertifikaten auch die Amortisation der Anlage ermöglichen würden», sagt Furgler. Dazu braucht es allerdings Abnehmer, die kostendeckende Preise für die Zertifikate der KVA bezahlen. Mögliche Abnehmer wären auch Kantone und Bund. Sie sind verpflichtet, ihren CO2-Ausstoss zu kompensieren.

Wenn die politischen und finanziellen Fragen geklärt werden, könnte die Filteranlage relativ rasch gebaut werden. Die Anlage könnte in vier bis sechs Jahren in Betrieb gehen. Zumindest technisch sei das machbar, sagt Furgler.

 

Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland. Mehr Infos

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