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Dankbar für die geschenkten Sprachen

Wie ist es, mit drei Sprachen aufzuwachsen? Deutsch, Italienisch und Pus’ciavin sind mir, seit ich denken kann, vertraut. Meine Mehrsprachigkeit ist ein Geschenk, das ich nicht missen möchte. 

Suela
Tuena
25.10.23 - 14:50 Uhr
Menschen & Schicksale
Zurück in die Kindheit: Mein Bruder und ich sind in einer bilingualen Familie aufgewachsen.
Zurück in die Kindheit: Mein Bruder und ich sind in einer bilingualen Familie aufgewachsen.
Bild Barbara Russi Tuena

Wie fühlt es sich an, seit der Kindheit mehrere Sprachen zu sprechen? Ich möchte meine persönliche Erfahrung mit euch teilen. Damit ihr einen tieferen Einblick in meine Welt erhält, nehme ich euch mit auf eine Reise in meine Kindheit.

Ich bin in der ältesten Stadt der Schweiz, Chur, aufgewachsen und habe dort meine gesamte Kindheit verbracht. Der Kanton Graubünden, als einziger dreisprachiger Kanton, ist für seine kulturelle Vielfalt bekannt. Verschiedene Kulturen und Dialekte verschmelzen miteinander und genau darum liebe ich unseren Kanton so sehr. Ich fühle mich in «Graubünda eifach dahei!» Ich bin mir sicher, vielen Bündnerinnen und Bündnern geht es ähnlich. Ich liebe das Dorfleben, die Bündner Berge, die Menschen, die Kleinstadt und die Natur.  

Meine Eltern jedoch sind, anders als ich, in der Valposchiavo (auf Deutsch: Puschlav) aufgewachsen. Die Valposchiavo ist ein Bergtal im italienischsprachigen Teil von Graubünden. Das Tal ist vom Oberengadin über den Berninapass erreichbar, und die Autofahrt von Chur dauert nur etwa zwei Stunden.

Die Valposchiavo ist unter anderem für den berühmten roten Zug, die Berninabahn, bekannt, die seit 2008 zum Unesco-Welterbe gehört. Wenn ihr diese Strecke noch nie mit der Rhätischen Bahn gefahren seid, kann ich euch die Fahrt bis nach Tirano wärmstens empfehlen. Der ständige Wechsel des Panoramas nach den Tunneln ist ein einzigartiges Erlebnis.

Besuch in der Valposchiavo: Das Bergtal befindet sich im italienischsprachigen Teil von Graubünden.
Besuch in der Valposchiavo: Das Bergtal befindet sich im italienischsprachigen Teil von Graubünden.
Bild Matteo Tuena

Im Puschlav wird der italienische Dialekt Pus'ciavin gesprochen, ein alpinlombardischer Dialekt. Da beide meiner Eltern mit diesem Dialekt aufgewachsen sind, wurde er auch in unserer Familie zur Hauptsprache. Das Pus'ciavin unterscheidet sich jedoch deutlich vom klassischen Italienisch. Das erklärt auch, warum uns nicht alle italienischsprachigen Personen verstehen. 

Welche Sprache wird im Puschlav gesprochen? Die Umgangssprache im Puschlav ist das Pus'ciavin. Im Dialekt wird das Puschlav als Tal Pusc’iav bezeichnet, während es in der italienischen Schriftsprache Valposchiavo genannt wird.

Lago di Poschiavo: Zu Fuss kann der See in zwei Stunden umrundet werden.
Lago di Poschiavo: Zu Fuss kann der See in zwei Stunden umrundet werden.
Bild Matteo Tuena

Seit über 30 Jahren leben meine Eltern in Chur. Dort ist Bündnerdeutsch die gängige Sprache und dominiert den Alltag. Unsere Eltern legten aber sehr viel Wert darauf, uns zweisprachig mit Deutsch und Pus’ciavin zu erziehen. Es war ihnen stets wichtig, dass mein Bruder und ich die beiden Sprachen nicht vermischen. Deshalb wurde in unserer Familie konsequent Pus'ciavin gesprochen. Tatsächlich könnte man sagen, dass ich quasi mit drei Sprachen aufgewachsen bin: Zu Hause sprach ich immer Pus'ciavin, mit meinen Freunden Bündnerdeutsch und zusätzlich unterhielt ich mich auch immer wieder im klassischen Italienisch.

Neben der Schule pflegte ich regelmässigen Kontakt zu meinem Onkel und einigen Freunden, mit denen ich auf Italienisch sprach. Zudem schauten wir zu Hause oft italienische Medien und ich las neben deutschen auch italienische Bücher. Dieses vielfältige Sprachumfeld prägte und bereicherte meine Kindheit und trug wesentlich dazu bei, meine Liebe zu Sprachen zu entwickeln und meine Sprachfähigkeiten zu stärken.

Familie Tuena: Seit über dreissig Jahren lebt Suela, ihr Bruder und ihre Eltern in Chur. 
Familie Tuena: Seit über dreissig Jahren lebt Suela, ihr Bruder und ihre Eltern in Chur. 
Bild Matteo Tuena

Schon von der ersten Schulklasse an besuchten mein Bruder und ich in eine zweisprachige Klasse im Schulhaus Rheinau in Chur. Dort wurde die eine Hälfte der Fächer in Deutsch und die andere in Italienisch unterrichtet. Dank des Dialekts konnte ich leichter Verbindungen zum Italienischen herstellen. In meiner Kindheit bemerkte ich allerdings, dass ich beim Sprechen gelegentliche grammatikalische Fehler im Deutschen machte. Das brachte hin und wieder das ein oder andere Kind aus meiner Klasse zum Schmunzeln oder es brachte sie dazu, mich zu korrigieren. 

Dies geschah aber hauptsächlich bei Schülerinnen und Schülern, die nur mit der deutschen Sprache aufgewachsen waren. Doch mit der Zeit wurde das immer besser. Heute kann ich sagen, dass ich sowohl Deutsch als auch Italienisch fliessend spreche. Zugegeben, Mehrsprachigkeit im jungen Alter kann manchmal schon etwas knifflig sein, weil man gleichzeitig mehrere Sprachen lernt. Wenn ihr aber die Möglichkeit dazu habt, kann ich besonders Familien empfehlen, diesen zweisprachigen Weg mit den Kindern zu gehen.

Eine zweisprachige Bildung fördert den Lernprozess zusätzlich, und das Schreiben in beiden Sprachen wird gefördert. Ich war schon immer eine Bücherratte. Deshalb hatte ich in der Schule nie Probleme mit der deutschen Grammatik und konnte mich gut durchsetzen. Im Fach Italienisch erzielte ich immer gute Leistungen, da ich den anderen natürlich weit voraus war. Meine Schwäche lag dafür in der englischen Sprache. Heute vermute ich, das lag daran, dass ich in meiner Kindheit kaum englischsprachige Medien konsumierte und deutlich häufiger Urlaub in Italien als in englischsprachigen Ländern machte. Aber es ist natürlich nie zu spät, noch weiter daran zu arbeiten. 

Seit meiner Kindheit besuche ich mehrmals im Jahr meine Verwandten im Puschlav. Meine Grosseltern besitzen dort ein Haus, in dem meine Familie auch eine Ferienwohnung bewohnt. Neben meinen Grosseltern knüpfte ich vor vielen Jahren eine enge Freundschaft mit einer Puschlaverin. Auch wenn sie mittlerweile nicht mehr im gleichen Dorf lebt, halte ich nach wie vor den Kontakt zu ihr. Am liebsten jedoch reise ich ins Puschlav, um Zeit mit meiner Familie und den Verwandten zu verbringen.

Annunziata: Unser Ferienhaus bei den Grosseltern.
Annunziata: Unser Ferienhaus bei den Grosseltern.
Bild Matteo Tuena

Was ich an diesem Tal besonders liebe, sind die wundervolle Ruhe und die malerische Landschaft. Die Valposchiavo bietet wunderschöne Wandermöglichkeiten. Zum Beispiel wandere ich gerne in die Val di Campo bis zum Lago di Saoseo, spaziere durch die Dörfer oder wage mich auch an anspruchsvollere Wanderungen in der Region. So war ich diesen Sommer mit meinem Onkel und meinem Bruder auf dem Piz Sassalbo unterwegs.

Lago di Saoseo: Während einer Herbstwanderung am See kann man die bunt gefärbten Lärchen betrachten. 
Lago di Saoseo: Während einer Herbstwanderung am See kann man die bunt gefärbten Lärchen betrachten. 
Bild Suela Tuena

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wird es mir ganz warm um mein Herz und ich schwelge in lauter positiven Erinnerungen. Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich das Glück hatte, in so einer wunderbaren Familie aufzuwachsen. Sowohl Familie als auch die Mehrsprachigkeit sind Geschenke, die in meinem Herzen einen ganz besonderen Platz einnehmen.

Suela Tuena ist Multimediaredaktorin. Sie kommt ursprünglich aus dem Puschlav und ist zweisprachig aufgewachsen. Sie hat die soziale MBS abgeschlossen und in ihrer Freizeit fotografiert sie gerne. Mehr Infos

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