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«Sie geniessen einfach die Zeit»

Noch bis Ende August dürften jüdische Feriengäste das Strassenbild von Davos prägen. In dieser Zeit sind auch die Likrat-Vermittler unterwegs. Das sind Schweizer jüdischer Religion, die bei kulturellen Missverständnissen Brücken bauen können.

Barbara
Gassler
11.08.23 - 06:29 Uhr
Menschen & Schicksale
Für Hiesige heisst das ganz eindeutig: Halt, nicht weiter. Für Auswärtige scheint die Beschilderung nicht klar genug zu sein.
Für Hiesige heisst das ganz eindeutig: Halt, nicht weiter. Für Auswärtige scheint die Beschilderung nicht klar genug zu sein.
bg

Iris betrachtet die kurze Videosequenz mit einem Kopfschütteln. «Noch einmal machen die das nicht.» Zu sehen ist, wie zwei aufgrund ihrer Kleidung eindeutig als jüdisch zu erkennende Männer sich mit einem Kinderwagen einen Biketrail hinunter quälen. Seit inzwischen fünf Jahren erlebt Iris die «jüdische Haupt­saison» als eine der in Davos stationierten Likrat-Vermittler mit. Als solche ist es eine ihrer Aufgaben, auf die jüdischen Gäste zuzugehen und nach ihrem Befinden zu fragen. «Sie sagen mir einhellig, wie toll für sie die Zeit in Davos ist, und wie sehr sie sie geniessen.» Rückmeldungen über Unfälle oder Situationen, wie in dem Video gezeigt, hatte sie nie. Überrascht ob der Bilder ist sie aber nicht. «Diese Leute kommen wahrscheinlich aus einer sehr städtischen Umgebung. Sie haben keine Ahnung, womit sie hier in den Bergen rechnen müssen.» Dass aus einem anfänglich einladenden Weg plötzlich ein schmaler, steiniger Pfad werden könnte, sei für sie schlicht nicht vorstellbar. «Und selbst, wenn man sich damit konfrontiert sieht, glaubt man doch, es sei nur ein kurzes Wegstück, das einfach zu überwinden sei.» Dann komme es zu Situationen wie im Video. Doch massenhaft würden sich die Leute nicht solchermassen verirren, ist die Likratina überzeugt. «Allerdings, wenn es an einem Ort, wie gerade jetzt in Davos, an die 4000 ­jüdische Gäste hat, reichen natürlich ein paar wenige.»

Abhilfe schaffen könne da nur bessere ­Information. Und zwar über das Tourismusbüro. «Dahin wenden sich die meisten zuerst, um sich beraten zu lassen.» Heuer sei ihnen da zum ersten Mal ein Merkzettel abgegeben worden, auf dem die wichtigsten Regeln bezüglich Abfall, Reinigung und Picknick aufgeführt sind. «Warum nicht so etwas machen mit Hinweisen zu Wegstrecken und Gefahrenquellen?», fragt Iris. Diese Merkblätter müssten zusätzlich bei den Wohnungsvermittlern und den koscheren Hotels aufliegen. Über das Internet könnten diese Gäste wiederum kaum erreicht werden, weil sie es gar nicht nutzten.

Auch das ist Davos: Verschiedene Religionen und Kulturen friedlich vereint.
Auch das ist Davos: Verschiedene Religionen und Kulturen friedlich vereint.
bg

Fokus auf die Familie

Auf die Weitergabe von hart erworbenem Wissen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft dürfe man ebenfalls nicht zählen, denn die hier befindlichen Familien tauschten sich untereinander kaum aus. «Ihr Alltag spielt sich in einem stark strukturierten Rahmen ab. Die Eltern arbeiten, die Kinder besuchen schon früh Tagesstätten.» Die wenigen Wochen ­Ferien in der Schweiz seien die einzigen Momente, in denen sie als Familie den ganzen Tag zusammen verbringen könnten. Entsprechend seien sie dann auf sich selber konzentriert. «Viele sparen das ganze Jahr über für diese wenigen Tage.» Über die oft kolportierte Geschichte vom Heiratsmarkt Davos muss die Likratina lachen. «Ganz bestimmt nicht, das spielt sich ganz anders und unter miteinander bekannten Familien ab.»

Ausschnitt aus dem erwähnten Video.
Ausschnitt aus dem erwähnten Video.
zVg

Positive Veränderung

Das eingangs erwähnte Video stammt zwar von der Lenzerheide, doch von der «Chügelibahn» auf Bolgen existiert ähn­liches Material. Dort sieht man ein im Aufstieg begriffenes Paar mit Kinder­wagen. In diesem Fall vermutet die sonst für klare Sanktionen einstehende Iris, dass die Signalisation nicht deutlich genug sei. «Europäisch abgefasste Verbotsschilde werden zum Beispiel von Israelis oft nicht verstanden.»Bei ihren Gesprächen mit jüdischen Gästen bekomme sie immer nur strahlende Gesichter zu sehen. «Sie sind hell begeistert.»

Das Zusammenleben zwischen jüdischen Gästen und Einheimischen habe sich verbessert, urteilt die Likratina. «Die Sache mit dem Grüssen ist inzwischen kein ­Thema mehr, und an verschiedenen Orten wurden Sitzmöglichkeiten für das Picknick geschaffen. Ausserdem halten Wohnungsvermieter inzwischen Warmhalteplatten für den Sabbat bereit.» Angesprochen auf den erst in Erwartung ­jüdischer Gäste erstellten Sichtschutz zur Terrasse des Hotels Seehof meint sie: «Im Judentum wird jede Mahlzeit von religiösen Handlungen begleitet. Ich verstehe es, dass man dabei an diesem exponierten Ort nicht angestarrt werden will.»

Reklamationen von einheimischer Seite bekomme sie inzwischen nur noch wenige, und wer sein Angebot auf jüdische Gäste ausgerichtet habe, mache sehr gute Geschäfte. So böten Grossverteiler ein Sortiment an koscheren Lebensmitteln an, oder sie gäben Listen ab, auf denen ihre den jüdischen Gesetzen entsprechenden Produkte aufgelistet seien. Ganz ohne die Präsenz der Likrat-Vermittler gehe dennoch noch nicht. «Sie hilft Davos, und sie hilft den jüdischen Gästen.»

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